Gerade ist es richtig in, nach dem Schulabschluss den Schritt zu wagen und Zeit im Ausland zu verbringen: ob im Rahmen von „Work and Travel“, Reisen oder einem Freiwilligendienst. Wie ist es, in einem anderen Land ein ganz neues Leben anzufangen? Ich habe mich für ein freiwilliges Jahr in einem Kibbutz in Israel entschieden und möchte mit meinen Artikeln einen Einblick in diesen neuen und ziemlich aufregenden Lebensabschnitt geben.
Im Juli hatte ich Urlaub und bin mit meinen Mitfreiwilligen noch einmal gereist. Wir waren das ganze Jahr über in unser freien Zeit unterwegs und so dachte ich mir vor der Reise: „Was will ich denn noch sehen, ich kenne doch schon so ziemlich alles?“ Letztendlich waren wir dann noch einmal in Tel Aviv, Jaffa, in Jerusalem und Ramallah unterwegs. Vor allem Jerusalem und Ramallah haben mich so ziemlich vom Gegenteil überzeugt; dass ich nämlich noch immer keine Ahnung habe von dem, was hier so vor sich geht (vor allem politisch). Aber fangen wir von vorne an:
Rollenbilder und Klezmer in Jerusalem
Die freie Woche fing in Tel Aviv und Jaffa eigentlich ganz unpolitisch an; wir haben das Meer und die Stadt mit ihrem liberalen Flair genossen und hauptsächlich entspannt. Samstagabend sind wir dann nach Jerusalem zu einer Freundin gefahren. Als wir ankamen, war sie bei einem Klezmer-Konzert und meinte zu uns, wir können später dazustoßen.
Wir suchen also die Adresse, die sie uns geschickt hat, und gehen noch etwas zögerlich die Treppe zum Untergeschoss des Hauses herunter, von wo die lebhafte und flotte Musik herkommt, öffnen die Tür und treten ein – und sehen auf einer Bühne fünf Männer, die Klavier, Akkordeon, Klarinette, Schlagzeug und E-Gitarre spielen. Der sechste Mann hat sich auf seinen Kopf eine halbvolle Weinflasche gestellt und flitzt flink und fröhlich über die Bühne. Ab und an tanzt er auch eine Art russischen Tanz in der Hocke (die Weinflasche mit einbezogen). Alle sechs Männer tragen Kippa, schwarze Hose und Schuhe, weißes Shabbathemd, Zizijot (Schaufäden) und lange Schläfenlocken. Ich sehe das erste Mal orthodoxe Juden Musik machen und dann auch noch so fröhlich und unbeschwert.
Ich bin ein wenig beschämt über die Tatsache, dass der Anblick eines Orthodoxen mit E-Gitarre mich so sehr irritiert und ich folglich wohl doch ein sehr vorgefertigtes Bild über eine bestimmte Bevölkerungs- bzw. Religionsgruppe habe. In meinem Kibbutz sieht man im Normalfall allerhöchstens Männer mit Kippa. Wenn ich Juden begegne, die ihren Glauben nach außen hin auf diese Weise zeigen, dann passiert das im Bus oder der Stadt und wir gehen uns (auch was Blickkontakt angeht) gegenseitig aus dem Weg. So hatte ich bisher immer ein sehr distanziertes Verhältnis und Bild zu „diesen Leuten“, die sich in der Öffentlichkeit ja auch allein schon mit ihrer Kleidung deutlich von anderen abgrenzen. Tja, was soll ich noch mehr dazu sagen? Dieses (übrigens sehr gute!) Klezmerkonzert hat mich jedenfalls daran erinnert, dass ich ganz schön wenig weiß über diese Bevölkerungsgruppe.
Breaking the silence
Der nächste Tag ging ziemlich in die andere Richtung – ins Westjordanland. Eine Mitfreiwillige und ich hatten uns für eine „Breaking the silence“-Tour angemeldet. Breaking the silence ist eine israelische Nichtregierungsorganisation, die 2004 nach der zweiten Intifada gegründet wurde und nach eigenen Angaben „die Öffentlichkeit mit der Realität des täglichen Lebens in den besetzten Gebieten […] konfrontieren“ möchte. Ehemalige israelische Soldaten, die während ihres Dienstes in den besetzten Gebieten eingesetzt waren, geben Berichte über ihre Erfahrungen während dieser Zeit ab, die zusammen mit Dokumenten, Fotos und Videos auf der Internetseite veröffentlicht werden. Außerdem werden Touren ins Westjordanland angeboten, in denen es hauptsächlich um das angespannte Verhältnis zwischen Palästinensern, Siedlern und der israelischen Armee geht.
Die South Hebron Hills
Wir waren mit einem ehemaligen Soldaten in der Region südlich von Hebron, einer der ärmsten und am meisten vernachlässigten Regionen der besetzten Gebiete, die zur Zone C gehört. Im Zuge der Osloer Vereinbarungen wurde die Westbank in die Zonen A, B und C sowie Sperrgebiete eingeteilt. In Zone A hat die palästinensische Autonomiebehörde die Polizei- und Verwaltungsgewalt einschließlich Baugenehmigungen. In Zone B ist sie für Verwaltungsangelegenheiten sowie Baugenehmigungen zuständig, die israelische Polizei hat die Kontrolle. In Zone C (die etwa 60 Prozent der West Bank ausmacht) hat Israel sowohl Verwaltungshoheit (inklusive Baugenehmigungen) als auch die Polizeimacht.
Neben dem Mangel an lebensnotwendigen Gütern leiden die Palästinenser in Zone C unter Gewalt von Siedlern sowie Einschränkungen der Bewegungsfreiheit und Hausbeschädigungen und -zerstörung durch die israelischen Behörden. Siedler bauen in dieser Region zum Teil ohne Baugenehmigung neue illegale Siedlungen (bzw. „Außenposten“), die in den allermeisten Fällen geduldet und von den Behörden sogar ans Strom- und Wassernetz angeschlossen werden. Gleichzeitig ist die Chance, dass Palästinenser eine Baugenehmigung für ein Haus oder ein öffentliches Gebäude wie eine Schule (auf ihrem eigenen Grundstück!) bekommen, sehr gering. Bauen sie ohne Genehmigung, leben sie unter der ständigen Gefahr, dass Haus und Geschäft von den israelischen Behörden bzw. der Armee abgerissen werden – was sehr häufig passiert.
Besondere Gebiete
In der Tour wurde auch davon gesprochen, wie den Palästinensern in dieser Region und generell in Zone C ihr Grund und Boden streitig gemacht wird, indem ihr Land von den Behörden zu besonderem Gebiet erklärt wird.
Unter anderem werden Gebiete ernannt zur militärischen Trainingszone (für die israelische Armee), zum Naturreservat, zur archäologischen Ausgrabungsstätte (auch wenn auf genau auf dieser Fläche eine palästinensische Siedlung steht; so z.B. im Fall von Khirbet Susiya) oder auch zur Sicherheitszone (ein Gebiet, in dem sich weder Siedler noch Palästinenser aufhalten dürfen; quasi als „Pufferzone“ zwischen einem palästinensischen Dorf und einer jüdischen Siedlung, zum Vermeiden von Konflikten).
Ich könnte noch einiges über diese Tour erzählen, aber ohne genaue Quellenangaben möchte ich nicht irgendwelche Fakten in den Raum stellen, deshalb belasse ich es dabei, empfehle euch dazu folgende Organisationen bzw. Webseiten weiter und hoffe sehr, dass ihr fleißig weiterlest:
B´tselem: https://www.btselem.org/ und explizite Berichte und Fakten über die Region, in der wir unterwegs waren: https://www.btselem.org/south_hebron_hills und https://www.btselem.org/south_hebron_hills/susiya.
United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (OCHA): Infos, Statistiken, Berichte, Karten über die Lage in den Besetzten Gebieten: https://www.ochaopt.org/ und Informationen explizit zu Susiya: https://www.ochaopt.org/content/susiya-community-imminent-risk-forced-displacement-june-2015.
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