Am Ende seiner Abschiedsrede wird es noch einmal richtig laut im Plenarsaal. Tosender Applaus brandet auf, als Norbert Lammert den Bundestag als die Herzkammer der Demokratie bezeichnet. Nach vierzig Jahren, zehn Legislaturperioden, von welchen er zwölf als Bundestagspräsident begleiten durfte, ist Schluss. Mit Nobert Lammert verlässt ein immer aktiv und zugleich beruhigender Politiker Berlin. Im Interview appelliert er an die Jugend, von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen und die damit verbundene politische Verantwortung zu schätzen. Des Weiteren spricht er über Deutschlands zukünftige Rolle in der Außen- und Umweltpolitik. Das Interview führten Thomas Lipke und Martin Wendiggensen.
Herr Lammert, ein Gedankenexperiment zum Anfang: Sie sind 16 Jahre alt und leben in Deutschland 2017. Würden Sie den Versuch eines politischen Engagements wagen und was würden Sie versuchen, zu verändern?
Unbedingt! Deutschland im Jahre 2017 ist nicht minder spannend als im Jahre 1964 als ich – mit 16 Jahren – in die Junge Union eingetreten bin, um „mitmischen“ zu können. Und ich würde dies auch und gerade rückblickend wieder tun mit dem Ziel, ganz konkret für die Anliegen der jungen Generation in meinem Umfeld einzutreten. Politik geht uns alle etwas an – sie gestaltet unsere Gegenwart und unsere Zukunft. Es ist also wichtig, das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass jeder und jede von uns, Einfluss auf die Gesellschaft nehmen kann und soll.
Ein Großteil der Jugend in Europa und Amerika ist politikverdrossen und tut genau das nicht. Wie kann es gelingen, sowohl die Jugend, als auch die gesamte Bevölkerung wieder für Politik zu interessieren?
Es muss in der Tat nachdenklich stimmen, dass Politik und Parteien für viele junge Leute offensichtlich nicht attraktiv (genug) sind. Allerdings bin ich der festen Überzeugung, dass die Jugendlichen heute dennoch genauso viel oder eben genauso wenig politisch interessiert sind wie frühere Generationen. Und wie früher ist die Demokratie ein mühsames Geschäft, ein Ringen um die besten Lösungen für komplexe Probleme und anschließend um Mehrheiten, damit gefundene Kompromisse auch umgesetzt werden können. Das besser zu erklären, ist in der schnelllebigen Kommunikationswelt zugegebenermaßen keine leichte Aufgabe, aber unabdingbar, um Interesse für Politik zu wecken. Am wichtigsten sind aber engagierte, glaubwürdige, politisch engagierte Menschen.
Politikverdrossenheit ist der erste Schritt zur Politikablehnung, als bestes Beispiel hierfür dient die politische Situation in den USA. Wie kann es einer Regierung gelingen, politische Radikalisierung aufzuhalten und was tut die deutsche Regierung bereits dafür?
Meine Empfehlung für alle politisch Verantwortlichen ist, sich unverdrossen zu bemühen, die Aufgaben so sorgfältig wie nur möglich zu erledigen – und damit Vertrauen in die Politik zu festigen. Denn Vertrauen ist das wichtigste Kapital der Demokratie. Für wünschenswert halte ich außerdem – auch und gerade in Wahlkampfzeiten –, etwas bescheidener in den Ankündigungen zu werden, dafür aber anspruchsvoller in den Zielen und mutiger in den Entscheidungen. Das ist nicht einfach, denn die aktuellen Probleme sind so komplex geworden, dass es naturgemäß, keine einfachen oder gar Patentlösungen gibt, wie Populisten es vormachen.
Wie verletzlich ist Deutschland gegenüber populistischen Strömungen, wie sie in den USA oder Großbritannien auftreten? Besitzt die AfD Ihrer Meinung nach einen langfristigen Einfluss auf die weitere Entwicklung Deutschlands oder ist die Partei bloß ein kleines Störfeuer?
Bei aller Besorgnis bin ich insgesamt doch zuversichtlich, dass die in Deutschland historisch bedingte und besonders ausgeprägte Skepsis gegenüber extremen Strömungen populistische Gruppierungen nicht dauerhaft reüssieren lassen.
Auch Sie haben gesagt, dass sich der Umgang und die Führung der Debatten im Plenarsaal gewandelt hätten. Woran machen Sie das fest?
Kurz und bündig: Es wird im Plenum zu viel geredet, aber zu wenig debattiert.
Kann dies auch ein Auslöser für eine fallende Wahlbeteiligung sein?
Es lässt sich kaum seriös ermitteln, welchen unmittelbaren Einfluss die Qualität der Plenardebatten auf die Wahlbeteiligung hat – ein Quotenrenner sind sie leider Gottes nicht. Die Vorstellung aber, die wichtigste Aufgabe des Parlaments bestehe darin, attraktiv zu sein, verkennt die Aufgaben der Volksvertretung. Im Übrigen steigt die Wahlbeteiligung in Deutschland seit längerer Zeit wieder. Das zeigt, dass die Bürgerinnen und Bürger die repräsentative Demokratie gerade in unruhigen Zeiten zu schätzen und zu nutzen wissen. Und ich kann nur – gerade auch an die jungen Wählerinnen und Wähler – appellieren: Nutzen Sie das „bürgerliche Königsrecht“ und gehen Sie wählen! Ich rate jungen Menschen, sich genauer die Ergebnisse des britischen Referendums 2016 anzuschauen: Mehr als 70 Prozent der jungen britischen Wähler waren für den Verbleib ihres Landes in der EU! Und es wäre nicht zum Brexit gekommen, wenn sich nicht ausgerechnet zwei Drittel der 16- bis 24-Jährigen entschieden hätten, an der Abstimmung nicht teilzunehmen. Hier hat eine Generation ihren politischen Einfluss dramatisch unterschätzt!
Glauben Sie, dass der Einsatz von Social Media Bots und von politischer Datenanalyse das Ergebnis sowie die Mehrheitsverhältnisse im Deutschen Bundestag langfristig beeinflussen kann?
Dieses Phänomen ist nicht zu unterschätzen. Der Umgang mit den neuen Medien erfordert mehr denn je gebildete und gut informierte Nutzerinnen und Nutzer. Daher ist Medienkompetenz in der heutigen Gesellschaft ungemein wichtig.
Auf Ihrer Webseite findet sich ein Bild, welches Sie und den Dalai Lama zeigt. Darunter steht der Satz „Es ist nicht leicht, die Welt zu verändern, aber der Versuch lohnt und manchmal ist er überfällig.“ Würden Sie sagen, dass wir den Punkt der Überfälligkeit wieder erreicht haben?
Stillstand darf es in der Politik generell nicht geben, denn eine freie Gesellschaft wandelt sich unaufhörlich. Die Aufgabe der Politik besteht darin, Handlungsbedarf zu erkennen und mehrheitstaugliche Lösungen für die kleinen wie großen Probleme zu erarbeiten. Dabei ist fast immer eine Frage dabei, die „überfällig“ ist.
Wie sehen Sie Deutschlands Zukunft in Hinsicht auf große Herausforderungen wie den Klimawandel?
Ich bin zuversichtlich, dass Deutschland seine gewachsene Verantwortung national und international wahrnehmen und zur Lösung der globalen Probleme – gemessen an unseren Möglichkeiten – beitragen wird.
Wie bewerten Sie unsere zukünftigen Verbindungen zu europäischen Partnern sowie den USA? Was sind die wichtigsten Baustellen Ihrer Meinung nach?
Was die Zukunft bringt, lässt sich immer nur vorläufig bewerten. Doch ist aus meiner Sicht vor allem wichtig, im Gespräch zu bleiben und behutsam mit dem Erreichten umzugehen – innerhalb der Europäischen Union genauso wie in den transatlantischen Beziehungen.
Die nun zu Ende gehende Legislaturperiode wird wohl als eine der schwierigsten und ereignisreichsten des noch jungen 21. Jahrhunderts eingehen. Bedauern Sie, dass Sie nun an einem so wichtigen Punkt aus dem Bundestag ausscheiden?
Nein, im Gegenteil: Nach mehr als vierzig Jahren politischer Arbeit, zehn Legislaturperioden im Deutschen Bundestag und fast zwölf Jahren im Amt des Bundestagspräsidenten ist es Zeit, die Verantwortung in andere Hände zu legen. Zugegebenermaßen habe ich mir die Entscheidung, nicht mehr anzutreten, nicht leicht gemacht. Und so schwierig es ist, den richtigen Zeitpunkt für einen solchen Abschied zu finden, so sehr glaube ich, dass es dafür kaum einen besseren geben würde.
Womit werden Sie sich zukünftig beschäftigen?
Ich finde zum Beispiel Konzertsäle ebenso attraktiv wie Plenarsäle. Und da es jenseits der Politik vieles gibt, was mich persönlich interessiert, werde ich unter Beschäftigungsmangel gewiss nicht leiden.
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