Seit es soziale Medien wie YouTube und Facebook gibt, existiert ein externer Markt für gekaufte Reichweite. Im Folgenden geht es um aktuelle Entwicklungen im Markt und ein Gespräch mit dem Geschäftsführer eines Unternehmens aus der Social-Media-Boosting-Branche.
YouTube bietet großen Künstlern die Möglichkeit, ihre Songs auf der Plattform hochzuladen und damit langfristig ihre Einnahmen durch Streaming-Dienste und Albumverkäufe anzukurbeln.
Ein neuer Stern am Rap-Himmel?
Auch weniger bekannte Musiker nutzen YouTube und erhoffen sich von der schier unendlichen Reichweite den schnellen Durchbruch – so auch das Rapper-Kollektiv STREETLIFE. Mit nur zehntausend Abonnenten wurde das Musikvideo seines Songs über 1,6 Millionen Mal geklickt. 29.000 Rap-Begeisterten gefällt sein Video und in den Kommentaren erhält der Newcomer fast durchweg positives Feedback. Ein User kommentiert: „Endlich mal gescheite Musik hier“, ein anderer fordert, dass STREETLIFE bekannter werden müsse.
Das Paradebeispiel eines aufstrebenden Rappers, dem schon bald der Durchbruch gelingen könnte, wenn man seine Einschätzung auf Reaktion und Reichweite seiner Videos stützt. Tut man das, erliegt man aber leider einem Irrtum: Denn die meisten netten Kommentare unter seinem Video sind schlichtweg nicht echt. Lässt man sich auflisten, wo der Account namens Tim Schulte sonst noch kommentiert, fällt auf, dass er vorwiegend kurze und überschwänglich positive Kommentare unter Musikvideos von Rappern abgibt. Unter Werbevideos für Hoverboards von einem Start-up aus Berlin kommentiert der User ebenfalls mit Inbrunst und offenbart sich als Fan von Werbung für Call-Center und zwielichtigen Beratungsvideos zum Vermögensaufbau.
Accounts mit weit gefächerten und ebenso bemerkenswerten Interessen, wie den von Tim Schulte, gibt es zahlreich auf YouTube, aber auch auf Facebook. Sie alle haben eines gemeinsam: Ihr positives Feedback wurde erkauft.
Angebot und Nachfrage
Für Konkurrenzfähigkeit und soziale Anerkennung in unserer Informationsgesellschaft werden Google-Bewertungen, Klickzahlen und „Gefällt mir“-Angaben auf Plattformen immer relevanter. Um bei dem Rennen um Reichweite nicht ins Hintertreffen zu gelangen, entsteht bei manchen Seiteninhabern und Content-Producern der Wunsch, an dem Feedback ihrer Inhalte herumzuschrauben. Besteht Nachfrage nach einer Sache und finden sich dazu passende Anbieter, entsteht ein Markt: Und der hat sich im letzten Jahrzehnt auch in Deutschland explosiv entwickelt. Wie stark verbreitet das Kaufen von Reichweite auf Social-Media-Plattformen ist, lässt sich nicht genau feststellen, aber: „Wenn neue soziale Netzwerke erscheinen, sind relativ schnell auch Social-Media-Dienstleistungen dafür verfügbar“, konstatiert Rene Hantsch die bisherige Entwicklung. Er ist Geschäftsführer von Best Views – einem Hamburger Unternehmen, das Kunden gegen Bezahlung Views, Follower, Fans und Kommentare vermittelt.
Hundert deutsche Fans auf Facebook kosten 22 Euro, 100.000 Youtube-Klicks aus der ganzen Welt sind für unter 100 Euro zu haben. Von internationalen Youtube-Klicks rät Hantsch aber in den meisten Fällen ab. „Die Qualität der internationalen Fans sind nicht sehr gut. Das sind zwar größtenteils tatsächlich reale Leute, aber die kommen dann eben definitiv nicht aus Deutschland“. Wie bei Georgina Fleur. Die Bachelor-Teilnehmerin kaufte vor ihrer Reise ins Dschungelcamp rund 60.000 Likes – und wurde entlarvt. Mit Tools im Internet lässt sich blitzschnell die Herkunft der Fans einer Facebook-Seite feststellen. Das Ergebnis: Nur 17 Prozent stammten aus Deutschland, der Rest aus Vietnam, Indien, Brasilien oder Pakistan. Auch Bayerns Stürmer Robert Lewandowski sah sich des Öfteren Vorwürfen ausgesetzt, Reichweite eingekauft zu haben.
Schneeballsystem als Marketing-Instrument
Auf diese Weise versucht auch das Rapper-Kollektiv STREETLIFE, an Aufmerksamkeit zu gewinnen. Vor allem weniger bekannte Künstler tun das auf diesem Wege – alleine Best Views liefert Dienstleistungen an rund 100 Rap-Künstler in Deutschland. Das ist aber nicht Hantschs einziger Kundenkreis: „Schauspieler und Moderatoren, die man aus den Medien kennt, sind auch dabei. Bei ihnen geht es dann nicht darum, dass sie von 220.000 auf 230.000 Fans steigen, sondern eher darum, dass deren Beiträge verkaufsfördernd kommentiert werden.“ Auch bei der einen oder anderen Beauty-YouTuberin soll diese Strategie Anwendung finden: Durch verhältnismäßig wenige, aber durchweg positive Kommentare sollen echte Nutzer in ihrer Meinung beeinflusst werden: „Das sind psychologische Gesetze, die auf einer gewissen Ebene tatsächlich funktionieren.“ Als Kunde kann man dabei den Text der Kommentare vorgeben oder den Kommentator individuell auf das Video Bezug nehmen lassen.
Dabei stellt sich schnell die Frage, von wem oder was Accounts wie Tim Schulte gesteuert werden. Denn wie sonst sollen individuelle Kommentare angeboten werden? Hinter deutschen Kommentatoren, Klicks und „Gefällt mir“-Angaben verbergen sich zum größten Teil echte Personen, die mehrere Accounts pflegen und für ihre Interaktionen wiederum bezahlt werden. Spielmünzen für Online-Spiele oder Cent-Beträge seien gängige Entschädigungen. Aufgrund der Tatsache, dass die Accounts mehr Bezug zur Realität haben, lassen sich auch spezielle Aufträge ausführen. Möchte ein Kunde beispielsweise, dass nur weibliche User aus Norddeutschland im Alter von 18 bis 25 das Video sehen oder mit einem „Gefällt mir“ markieren, können Dienstleister den Wünschen nachkommen – mit einem Nachteil: Während schnell mehr als 100.000 internationale Interaktionen ausgeliefert werden können, stoßen die Diensteanbieter bei 1.000 Likes mit solch speziellen Voraussetzungen an ihre Grenzen.
Der Weg in die Branche
Rene Hantsch, Geschäftsführer von Best Views, war nicht immer Dienstleister. Ein Jahr vor seiner Firmengründung betreute er einen Musiker und stand auf der anderen Seite: Nach einem teuren Musikvideo-Dreh erhielt das Video wenig Beachtung. 140 Klicks, ein Kommentar und zwei Likes sorgten für Ernüchterung. Um sich Abhilfe zu schaffen, kaufte der damals 20-Jährige über Ebay in den USA Reichweite, weil in Deutschland noch kein Markt existierte. Schritt für Schritt führte Hantsch die Leistungen auch im deutschen Markt ein. Bis ins Jahr 2012 arbeitete er noch im Einzelhandel, heute beschäftigt er zwei Festangestellte und vier freiberufliche Mitarbeiter und verkauft seine Dienstleistungen an einen wiederkehrenden Kundenstamm aus Künstlern und Unternehmen.
Das Geschäftsfeld, auf dem er sich mit seinem Unternehmen bewegt, ist rechtlich noch nicht komplett erschlossen. „Eine Firma, die bei uns Likes kauft, könnte sich vielleicht in wettbewerbsrechtlichem Sinne strafbar machen, weil sie dazu mogelt“, erklärt Hantsch. Bislang hatte das Kaufen von Reichweite in Social-Media aber weder für Kunden noch für Dienstleister Konsequenzen. Sobald aber ein Gerichtsurteil erlassen wird, würden die Karten ganz neu gemischt. Bis dahin muss jedoch niemand rechtliche Folgen befürchten.
Das Dilemma der politischen Regulierung
Die Regulierung von internationalen Internetgiganten wie Google und Facebook gelingt schon seit Jahren nur miserabel, wie man dieser Tage an den eher fadenscheinigen Bekenntnissen von Facebook zur Privatsphäre seiner Nutzer beobachten konnte. Wie in den meisten Bereichen des Internets hat die rechtliche Situation also keine oder nur wenig Bedeutung: Stattdessen rammen die Big Five mit ihren sogenannten Community-Richtlinien die Pflöcke für das Verhalten auf ihren Plattformen selbst in den Boden. Sowohl Facebook als auch Google untersagen das Kaufen von Reichweite darin und geben an, den Kampf dagegen nicht aufzugeben. Warum ändert sich also seit Jahren nichts am Stand der Dinge?
„YouTube und Facebook sprechen immer davon, dass es verboten ist, Likes zu kaufen. Aber wenn man ganz ehrlich ist: Beide wollen es nicht wirklich verhindern“, verrät Rene Hantsch. In einem Unternehmen wie Facebook oder Google seien Möglichkeiten zur Unterbindung bekannt: „Da sitzen wirklich schlaue Leute“. Wo kein Kläger, da kein Richter?
Facebook vs. YouTube
Grund dafür, dass die beiden Tech-Konzerne nichts gegen Social-Media-Boosting unternehmen, ist die Konkurrenz untereinander. Noch vor mehreren Jahren haben Facebook und YouTube nebeneinander koexistiert. Mit YouTubes Aufstieg als Videoplattform wurde auch das Medium „Video“ immer attraktiver. Facebook erkannte das schnell und versucht seit Jahren mit großer Vehemenz Facebook auch als Videoplattform zu etablieren. Videos von YouTube ließen sich beispielsweise plötzlich nicht mehr direkt im Facebook-Newsfeed einbetten und ansehen. Viele Content-Producer bieten ihre Inhalte mittlerweile auf beiden Netzwerken an – und schneiden sie immer mehr auf die Eigenheiten von Facebooks Nutzerverhalten zu. Mit aller Macht versucht Facebook sein Vorhaben weiter voranzutreiben: Mittelfristiges Ziel ist die Steigerung der „Watchtime“, also der Zeit, die alle Nutzer gemeinsam Videos schauen: Damit lässt sich besser bei Werbekunden argumentieren – gekaufte Social-Media-Reichweite ist da sogar förderlich.
YouTube dagegen muss befürchten, seine Vormachtstellung im Videobereich zu verlieren. Würde es das Kaufen von Reichweite unterbinden, könnten mehr Videoproduzenten in Richtung Facebook abwandern. Die Watchtime würde sinken und damit verbunden auch der Wert von YouTube für Werbetreibende.
Dazu kommt laut Hantsch: „Viele haben überhaupt keinen YouTube-Account und benutzen es eher passiv. Bei Facebook ist das etwas anderes: Du bist sofort eingeloggt und siehst, was deine Freunde teilen. Da ist die Interaktion sehr viel größer.“
Eine Branche mit Imageproblemen
Die Branche, in der Dienstleister wie Best Views agieren, wird meist totgeschwiegen oder sehr misstrauisch betrachtet. Tatsächlich bietet der Markt derzeit noch Platz für zwielichtige Dienste. Als Kunde sei es wichtig, die Möglichkeit zu haben, persönlichen Kontakt herzustellen. „Telefon-Support ist wichtig. Alle Unternehmen, die da nicht sofort erreichbar sind, sind tendenziell eher unseriös“, gibt Hantsch als Tipp.
Aber wie vertretbar ist das Kaufen von Social-Media-Reichweite? Unternehmen und Einzelpersonen, die solche Dienstleistungen in Anspruch nehmen, geben etwas vor, das sie nicht sind. Je nach Betrachtungsweise flunkern sie ein wenig oder betrügen bewusst. Die klassischen Werbemedien sind zwar in ihrer Form stärker als Werbung erkennbar, führen weniger medienaffine Menschen aber mit dem Kleingedruckten und anderen versteckten Kniffen regelmäßig aufs Glatteis. Letztendlich ist auch das Kaufen von Social-Media-Reichweite ein Werbeinstrument – es erweitert den Werkzeugkoffer der Werbeindustrie und ermöglicht präzisere Vermarktung.
Stef
Kann man auch Instagram Kommentare kaufen oder nur Facebook und YouTube Kommentare?