Kunst lebt von Originalität, Authentizität und Innovation – so die allgemeine Erzählung. Was aber, wenn die Fälschung besser ist als das Original oder kann sie das gar nicht? Ein gemeinsamer Beitrag von Tim Huyeng und Timo Feilen.
Nach zweistündiger Autofahrt stehen wir mit dem Auto endlich vor der Konzerthalle und versuchen, uns zu orientieren. Ein Parkplatz soll gefunden werden. Da springt er auf einmal in wippendem Schritt über die Straße an uns vorbei. Hunderte Stunden haben wir ihn oder zumindest seine Finger auf YouTube gesehen, immer wieder vor- und zurückgespult und jedes Mal verzweifelt auf die Gitarre in den eigenen Händen geblickt. Und jetzt hüpft er ganz dicht an unserem Auto vorbei. Die Haare, die sich standhaft wehren, als Frisur bezeichnet zu werden, springen dabei auf und ab, die Jeans schreit: „Ich bin keine Mode, sondern ein Relikt vergessener Tage“ und alles will die Nicht-Inszenierung inszenieren.
Kurz sind wir perplex, dann bricht das Lachen aus uns heraus. Machen wir uns da gerade über unser eigenes Idol lustig? Oder war es schon dieser kleine erste Eindruck, der unser Idol zu etwas anderem machen musste als zu einem Idol. Diese schreiende Harmlosigkeit setzt sich dann auch auf der Bühne fort, denn hier gibt es keine wilde Performance, keine Lichtshow erwartet uns und alles ist darauf ausgerichtet, „pur“ zu sein. Wenn Guthrie Govan, der Gitarrengott, dann mit dem Spektakel beginnt, spielt er aber eben nicht auf seiner extra für ihn gebauten Gitarre, sondern auf einer einfachen „Cigarbox“ mit Gitarrenhals.
Schon hier wird der Abgrund spürbar, denn die größte Überheblichkeit steckt in der Selbstironie. Und wenn dann diese langen, fast spinnenartigen Finger das Überkomplexeste und Schnellste auf der Gitarre spielen, muss das dazugehörende Gesicht eben nicht in Grimassen verzerrt werden und ein Kampf mit dem Instrument inszeniert werden, wie man dies aus den allzu pathetischen Auftritten bei jenen Talentshows im Privatfernsehen kennt. Das wäre hier nur lächerlich. Genauso die Inszenierung des verträumten Dahinblickens, das den Musiker in der Aura des Alleinseins und des völligen Vergessens der Masse zeigen soll. Weder die dramatische Schwere, noch die sich verabsolutierende Weltabgewandtheit sind Teil des Konzerts. Wer hier hinkommt, soll eben auf anderes achten. Zum Beispiel auf die subtile Interaktion zwischen den Musikern, wie es Govan in einem Interview vorschlägt.
Wenn Überwältigung und Huldigung in fast maskenhafte Erstarrung abgleitet
Dieses Nacktmachen der Musik und das Hinaufstreben von Metaebene zu Metaebene des musikalischen Witzes, gehen dann so weit, dass man jede allzu menschliche Schönheit in seiner Plattitüdenhaftigkeit sofort wieder zerreißt und in Überkomplexität ertrinken lässt. Govan nutzt dann gerne im britischen Akzent das Adjektiv „cheesy“ oder „boring“, wenn es um zu vorhersehbare, zu simple und scheinbar ideenlose Musik geht. Aber das ist dann eben so gut wie alles, was du und ich so täglich hören. Sein kleiner „Hit“ mit dem Titel „Waves“ wird von ihm in seiner „Cheesigkeit“ dabei nur dadurch entschuldigt, dass er 19 war, als er ihn schrieb. Auch wenn wohl alle genau auf diesen cheesy Song den ganzen Abend lang gewartet haben, kam er trotz zweifacher Zugabe nicht.
Lieber geht Govan gemeinsam mit seinen nicht minder talentierten Bandkollegen Marco Minnemann und Bryan Beller durch verschiedenste Genres und Stile, sie berühren Funk, Jazz, Blues, Rock, nur um zu sagen, dass man sich da überall eigentlich selbst nicht sieht. Dann spielt man Nachahmungen der verschiedenen Weltmusiken, von Flamencoschnipseln über indische Melodielinien bis hin zu afrikanischen Rhythmen, ohne aber irgendetwas konsequent auf Songlänge durchzuhalten – natürlich nicht weil man das nicht könnte, sondern weil es dann cheesy wäre.
Diese Art von Konzert muss man in den Gesichtern der Zuschauer mitlesen. Anfangs war hier noch die völlige Überwältigung und demütige Huldigung zu sehen, die aber dann von überlastetem Glotzen abgelöst wurde und letztlich über ging in fast maskenhafte Erstarrung. Da will dann auch niemand mehr Luftgitarre mitspielen, sondern höchstens die Frau zuhause anrufen, dass sie das eigene Instrument doch bitte in den Keller bringen soll. Vielleicht geht man im Kopf auch schon durch, wie man später möglichst klug gegenüber seinen Mitzuschauern das Konzert bewerten könnte. Und dennoch am Ende bleibt nach diesem säkularisierenden Gottesdienst ein fader Nachgeschmack der Desillusionierung.
Heute Kandinsky, morgen Dix — die Not des Kunstfälschers
So einfach kann es also sein. Innerhalb von fünf Minuten ist es gelungen, die Träume sämtlicher Nachwuchsgitarristen zu zerstören, die Ambitionen hatten, ihr Instrument zu meistern. In einem einzigen YouTube-Video bestaunen wir sämtliche Gitarristen, die ihr Instrument gemeistert haben und das bis zu einem Grade, der fast absurd erscheinen muss. Der fluide Stil eines Eric Johnson reiht sich an das ausdrucksstarke Spiel eines BB King, bis schließlich die verminderten Highspeed-Läufe des schwedischen Altmeisters Yngwie Malmsteen zur Ungläubigkeit verleiten.
Für den musikalischen Nachwuchs ist es wohl schlimm genug, erfahren zu müssen, wie einzigartig und ‚stimmig‘ das Instrument von vereinzelten Größen eingesetzt wird. Umso schlimmer, wenn dem Titel des Videos entnommen werden kann, dass ein einziger Gitarrist — Guthrie Govan — die Meister hier „nur“ nachahmt. Der Grad der Perfektion jedoch verbietet das Wort der Nachahmung, hat sich Govan hier doch scheinbar in die musikalische Seele des Gegenüber hineinversetzt, um das Spezifikum des individuellen Stils auszusaugen.
Einen auffallend ähnlichen Akt des Vampirismus findet man in der nächst liegenden Nachbardisziplin, namentlich in der Bildenden Kunst. Selbstgefällig und mit wissender Miene lässt Wolfgang Beltracchi, der wohl ‚erfolgreichste‘ Kunstfälscher, verlauten, er reise dem Künstler, den er kopieren will, auf Schritt und Tritt hinterher. Beltracchi möchte die selbe Luft atmen wie ein Pablo Picasso oder die selben Frauen bewundern wie ein Gustav Klimt. Mit jedem Wort macht Beltracchi deutlich: Ich bin besser als die Künstler und muss mich nur ihrer „Handschrift“ bedienen.
Während Govans berühmt-berüchtigte ‚Humbleness‘ die angedeutete Inszenierung der Nichtinszenierung sanft über die Bildschirme der hoffnungslosen Gitarreros streichen lässt und jedem vermittelt, dass auch er selbst eigentlich ein Versager am Instrument ist, spricht Beltracchi frei heraus: Ich kann alles fälschen, weil ich jeden Künstler verstehe. Was noch bei Govan durch Ironie und britisches Understatement unterminiert ist, scheint keine Notwendigkeit mehr bei Picasso 2.0 zu sein. Beide distanzieren sich stets vom unreflektierten Künstler, der lediglich kreiert und nicht reflektiert. Beide erscheinen als Intellektuelle, die dem Künstler aufgrund ihres Abstraktionsvermögens überlegen sind, aber auch aufgrund der Tatsache, dass sie doch selbst über das technische und stilistische Repertoire der Künstler verfügen, die sie ‚neu interpretieren‘. Weiter noch, sie können eigentlich einen gefühlvolleren Blues spielen als Stevie Ray Vaughan und ein suprematistischeres Gemälde malen als Malewitsch. Sie sind also der Künstler und noch viel mehr.
Ich fürchte mich so vor der Menschen Gitarre
Ja, diese Menschen wagen es mit ihrem unverantwortlichen Gestus der Selbstverständlichkeit auch den letzten Mythen unserer ohnehin bröckelnden Hochkultur die Aura der Unerreichbarkeit zu nehmen. Die Kunst steht mit dem Rücken zur Wand und kann nicht mehr erklären, dass da mehr sei als einfaches Handwerk. Wenn zur hohen Kunst wirklich geheiligte Hände, göttlich inspiriertes Genie und lebensweltliche Singularität gehören, wieso sind dann diese Imitationen in den Augen vieler sogar besser, ja sogar origineller als das Original?
Wenn diese Künstler dann sogar noch ihre übernatürliche Begabung negieren, ist der Frevel perfekt. Mit Talent würde das nichts direkt zu tun haben, eigentlich könnte das jeder. Wenn sie ihre Fähigkeiten dann in kleinen Einführungen und Kursen einem breiten Publikum näher bringen wollen, erklären sie darin das aller banalste zum Wesentlichen. Keine Tricks, aber auch keine großen Worte von „Feeling“, dem Unbeschreiblichen oder des Intuitiven sind da zu finden, sondern handwerkliche Anleitungen, die so auch überall sonst zu finden sind. Die Frustration darüber verändert auch die Sicht auf die Kunst, drängt sie hinaus aus der Welt der Unmittelbarkeit der sinnlichen Erfahrungen und hinein in die Betrachtung eines ganz profanen handwerklichen Prozesses und lässt Ärger über so viel Scharlatanerie und Entwürdigung zurück.
Wenn Guthrie beispielsweise erklärt, wie er Produzenten zufriedenstellt, die mehr Gefühl fordern, indem er ganz technisch ein paar mehr vierte Stufen in seine Improvisation einbaut, dann zeigt sich seine völlige Distanzierung zu den alten Werten der Kunst. Der Künstler von damals durfte auch seine eigene Kunst nie ganz durchschauen, denn es war eben jene geistreiche Spontanität eines sprudelnden Quells, die ihn von den bloßen Nachahmern und technischen Spezialisten auszeichnete. Dieser Künstler fischte in jenem Strom, der ihn selbst durchfloss. Ganz im Gegensatz zu Govan und Beltracchi. Und dabei lässt sich den beiden sinnbildlich hier vorgestellten Figuren noch nicht einmal Größenwahn unterstellesn. Die Bescheidenheit wäre hier deutlich ostentativer als die Übertreibung. Einzig stellt sich die letzte Frage: Hängt Guthrie Govan irgendwann seine Gitarre an den Nagel, einfach weil er damit fertig ist?
Das Ende der Kunst oder warum die Perfektion überwunden werden muss
Welches Kunstverständnis erblicken wir hier? Zunächst einmal ist es sicherlich eine gigantische Leistung, den Stil der kreativen Größen zu perfektionieren. Aber — und dies ist ein gewichtiges „aber“ — es bleibt dabei, dass eben nur der Stil kopiert und verfeinert wird. Die Kunst verkommt hier zum reinen Technizismus. Derjenige, der Chagall noch chagallischer malt, hat den Wettstreit der Finesse gewonnen. Hier ist alles ein großer Kampf der Methode, ein Ringen um Authentizität in der Fälschung. Sämtliche kunsttheoretischen Diskurse werden beiseitegelassen, wenn es dann um die Frage geht, ob die verwendete Farbe auch tatsächlich aus dem Jahre 1907 stammt oder nicht. Der Kunstfälscher steht im Museum und sagt: das kann ich auch. Damit aber ist er weder ein Künstler noch ein Intellektueller, er ist im Grunde nicht mehr als ein Kunsthandwerker, dessen Schaffen irgendwo zwischen Nützlichkeit und Schönheit mäandert oder eben ein eifersüchtiges Geschwisterkind, das im kleineren Zimmer leben muss und nun den Durchbruch ins angrenzende Bad wagt — eben aus Prinzip. Dabei sollen im Falle Govans und Beltracchis Kunstgegenstände nicht mehr besonders ‚ästhetisch‘ oder ‚schmückend‘ sein, sie sollen schlichtweg perfekt sein. Nur hat die Perfektion etwas äußerst profanes an sich. Beltracchi und Govan leben die Methode und nicht die Kunst. Wenn das Fälschen zur zweiten Natur — ebendies bedeutet für den Fälscher Perfektion — wird, dann ist diese Natur ein austauschbarer Umhang neben vielen, den man sich überstreifen kann, wenn es notwendig ist und praktisch erscheint (und dabei rein zufällig etwas Geld einbringt).
Der Anspruch des Kunstfälschers, perfekt zu arbeiten, verhindert aber die eigentliche Perfektion, nämlich den Mangel an ihr. Der französische Psychoanalytiker Jaques Lacan führte für diesen Umstand den Terminus objet petit a ein, was einen begehrenswerten Gegenstand meint, der aber seinem Wesen nach unerreichbar bleiben muss. Slavoj Žižek überführt dieses Beispiel in den Bereich der Liebe. Seine These: Ich liebe mein Gegenüber nur dann, wenn ich etwas an ihm auszusetzen habe (wenn du nur zwei Kilo leichter wärst, wenn du doch eine etwas geschmackvollere Garderobe hättest etc.). Es ist das Verlangen nach Perfektion, das aber im Kern niemals befriedigt werden kann und gerade dadurch so reizvoll ist. Die Leidenschaft zwischen zwei Liebenden entsteht durch das gegenseitige „Hingehaltensein“, das „anziehende (ausziehende?) Ausharren“. Funktioniert das menschliche Verhältnis zur Kunst nicht genau in diesem Sinne? Kunst erscheint uns erst dann wertvoll, wenn sie nicht ganz rund ist, etwa wenn sich bis in die 60’er Jahre hinein der Diskurs hartnäckig hielt, die Demoiselles d’Avignon von Picasso seien gar nicht fertig gestellt, sondern verharrten in einem wankelmütigen Zwischenstadium. Dieses Zwischenstadium, diese Imperfektion, ist das ureigenste Charakteristikum eigenständiger Kunst. Wenn Guthrie Govan den konsequenten Blues als cheesy bezeichnet, verballhornt er die Kunst zum Künstlichen, indem er die Funktionsweise des objets petit a leugnet.
Erst recht wird der Verlust des Künstlerischen deutlich, wenn Beltracchi anfängt Bilder zu malen, nicht, wie es Duchamp oder Klee getan hätte oder aber, wenn Guthrie Govan Musik für seine Band ‚The Aristocrats‘ komponiert: die Fälscher verfügen schlichtweg über keinen eigenen Stil, der über die reine Banalität hinausgeht. Methode ist eben nicht gleichsam Stil, was dem ein oder anderen Künstler zu denken geben sollte. Was Friedrich Nietzsche und Charles Baudelaire den Tod des Künstlers heißen würden, soll hier vorsichtiger als der Tod des Künstlerischen und die Geburt des Künstlichen getauft werden. Kurzum: Wer alles kann, kann auch nur das.
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