In Zeiten hoher Arbeitslosigkeit und dem allgemeinen Konsens, dass jeder ersetzbar ist, muss man immer leistungsbereit und aufmerksam sein. Arbeitnehmer sollen ständig präsent und produktiv der Arbeit nachgehen. Hinzu kommen eine große finanzielle Unsicherheit und die Sorge um den eigenen Arbeitsplatz. Schlaf wird zunehmend als Handicap aufgefasst. Viele Menschen betrachten die Notwendigkeit der Nachtruhe als äußerst lästige Angelegenheit, als verlorene Zeit, die besser genutzt werden könnte. Einige wollen sich mit dem selbst gewählten Schlafentzug mehr Freizeit erkaufen. Ein Handel, der auf Dauer keine Gewinner haben kann. Das Wohlbefinden, die Leistungs- und Konzentrationsfähigkeit nimmt ab, in vielen Fällen leidet auch die Gesundheit unter dem Schlafmangel. Und doch: Im Schnitt schläft jeder Deutsche insgesamt 23 Jahre seines Lebens. Grund genug, um sich mit diesem geisterhaften Zustand menschlichen Daseins einmal genauer auseinanderzusetzen.
Die Gesellschaft und der Schlaf
Viele Berufstätige – und dies gilt nicht nur für Manager – arbeiten heute am Tag bis zu 14 Stunden und nehmen sich keine Zeit mehr für Freizeit, Erholung und Schlaf. Diese Menschen konditionieren sich zu Kurzschläfern, um dem täglichen Arbeitspensum nachzukommen. Kurzschläfer sind laut Schlafforschern Menschen, die weniger als fünf Stunden pro Tag schlafen. Eigentlich hochgradig ungesund. Aber dennoch gelten diese Kurzschläfer in der Gesellschaft als dynamisch, äußerst leistungsbereit und wahre Energiebündel. Das Image des ständig produktiven Mitarbeiters wird vielfach sogar gezielt als erstrebenswertes Charakterbild eingesetzt. Vor allem Staatsmänner zeichnen in der Öffentlichkeit das Bild eines ruhelosen, potenten Machthabers, der nie oder höchst selten ruht. Und da ist es egal, ob man in die Vergangenheit (Napoleon, Stalin, Hitler) schaut oder die gegenwärtigen Politiker auf ihr „Schlafimage“ untersucht. Das geht soweit, dass ein neuartiges Modell des Polyphasenschlafs in weiten Kreisen der Gesellschaft Anklang findet, mit dem man sein Schlafpensum auf zwei Stunden pro Tag minimiert.
Die Gesellschaft treibt sich selbst an und die Menschen laufen im Hamsterrad der Wirtschaft immer schneller. Wachstum ist das Stichwort der Zeit – nur leider nicht beim Schlaf. Die Soziologie beschreibt seit Jahren die Beschleunigung in der Gesellschaft und erkennt seit Jahren eine eklatante Veränderung in den Schlafgewohnheiten der Deutschen. Während der beständige Konkurrenzdruck zunimmt, nimmt die Zahl der Schichtarbeiter jedes Jahr weiter zu. Die Auswirkungen von verschobenen Schlafperioden werden häufig unterschätzt.
Die Uhr in mir
Jeder Mensch besitzt eine innere Uhr. In der Chronobiologie spricht man hier häufig von der zirkadianen Rhythmik. In Zeiten eines mechanistischen Weltbildes denkt sich die Gesellschaft die innere Uhr des Menschen unabhängig und autonom – gleichsam wie eine Maschine. Der Mensch kann immer arbeiten. Egal ob Tag oder Nacht. Hell oder Dunkel. Jedoch ist auch der Mensch ein Naturprodukt und darauf eingestellt, in Synchronisation mit der Natur zu leben. Jeder, der einmal einen echten Jetlag zu verkraften hatte, weiß, wie sich eine Irritierung des zirkadianen Systems anfühlt. Dabei kommt dem Licht die mit Abstand größte Funktion zu.
Wichtig ist es, das Ticken der inneren Uhr gezielt wahrzunehmen. Dafür sollte man mindestens eine Woche die eigenen Schlafgewohnheiten protokollieren. Damit wird man feststellen können, nach wie viel Stunden Schlaf man sich ausgeruht und fit fühlt. Denn auch hier gilt manches Mal: weniger ist mehr. Durch die 90-minütigen Schlafphasen solltest du es in jedem Fall mit fünfeinhalb, sieben und achteinhalb Stunden ausprobieren (die erste Schlafphase dauert nur 60 Minuten). Zudem wirst du mit dem Schlafprotokoll feststellen können, ob du eine Lerche oder eine Eule bist. Das ist die Unterscheidung zwischen zwei Chronotypen: Die Lerchen gehen früh schlafen und stehen früh auf, die Eulen gehen spät zu Bett und schlafen gerne länger. Beides ist vollkommen in Ordnung und absolut nicht verwerflich, allerdings sollte man versuchen, sich auf den eigenen Chronotypus einzustellen, da sich diese genetische Gegebenheit nicht abtrainieren lässt.
Warum überhaupt?
Schlafforscher gehen heute davon aus, dass die nächtliche Ruhezeit vor allem der Regeneration des Körpers dient. In der Nacht fällt auf Grund der zirkadianen Rhythmik die Körpertemperatur, Atmung und Pulsschlag werden langsamer und der Blutdruck sinkt. Vor allem die Non-REM Phase, eine Schlafperiode, in der die Augen keine hektischen Bewegungen machen, wird vom Körper genutzt, um sich zu erneuern. Die Wirbelsäule, inklusive der stark beanspruchten Bandscheiben, schwingt sich aus. Man wird größer – psychisch und physisch. Auch auf zellulärer Ebene finden Reparaturvorgänge statt. Geschädigte oder alte Hautzellen werden abgestoßen und durch neue ersetzt. Dies hat dem Schlaf auch den schönheitsfördernden Ruf eingebracht. Zudem arbeitet der Stoffwechsel auf Hochtouren. Die mit der Nahrung aufgenommenen Vitalstoffe werden verarbeitet und schließlich an die Zellen weitergegeben. Zudem erhält das Immunsystem während der langen Ruhephase die Gelegenheit, alle potenziellen Krankheitserreger zu bekämpfen und Antikörper aufzubauen.
Schlafend lernen
Im Schlaf wird neu Erlerntes gefestigt und in den Nervenzellen in Form von neuen synaptischen Verbindungen langfristig abgespeichert. Am Tage Erlebtes wird als Langzeiterinnerung abgelegt, Bewegungsabläufe fest im Gehirn etabliert und die eigene Gedächtnisleistung optimiert. Wichtige Lernprozesse können erst jetzt beendet werden. Außerdem ist das Gehirn während des Schlafs in der Lage, die vielfältigen Eindrücke und Gedanken des Tages zu ordnen und sie erneut zu reflektieren. Aus den Ergebnissen der Schlafforschung lässt sich Folgendes ableiten: Direkt vor dem Einschlafen sollten die wichtigsten Lerninhalte wiederholt werden und mitten im Lernprozess darf man ohne schlechtes Gewissen ein kurzes Nickerchen machen. Und damit auch wirklich kein Blitzgedanke der Nacht verloren geht, sollte immer Stift und Zettel neben dem Bett bereit liegen. Übrigens sind so menschliche Errungenschaften wie die Theorie des Benzolrings, der Welthit „Yesterday“ oder die Druckluftbremse für Eisenbahnen entstanden. Was hat also der Schüler von heute alles dieser wundervollen nächtlichen Erfindung „Schlaf“ zu verdanken.
Dem Spuk ein Ende bereiten
Die richtige Schlafhygiene ist die Grundlage für einen guten Schlaf. Das klingt zunächst eigenartig und hat primär nichts mit dem abendlichen Waschgang zu tun. Vielmehr ist auf eine Schlafroutine zu achten, an der eisern festgehalten werden sollte. Wenn du mittels des Schlafprotokolls deinen perfekten Schlafrhythmus festgestellt hast, musst du diesen auch ernst nehmen und zum Beispiel auch am Wochenende einhalten. Du wirst deinem Körper nichts Gutes tun, wenn du jeden Sonntag bis Mittags im Bett liegen bleibst. Vor dem Einschlafen sollte man einen kleinen emotionalen Anker setzen. Meine Vorschläge wären hier: Sternegucken, den Lieblingstee trinken oder den Lieblingssong hören. Diese Angewohnheit sollte dann jedes Mal vor dem Einschlafen praktiziert werden. Übrigens ist die übermäßige Nutzung von Medien vor dem Schlafen schlecht für euren Schlafrhythmus, da das blaue Licht eurer Gehirn auf Tagesmodus umschaltet. Somit wird die zirkadiane Rhythmik durcheinandergebracht. Auch hier gewinnt also das Buch gegen den Fernseher. Falls du dann länger als eine Viertelstunde für das Einschlafen brauchst und dich eigentlich nur von einer Seite auf die andere drehst, schlägt nun die perfekte Stunde für unliebsame Aufgaben.
Egal ob Lateinvokabeln, Matheaufgaben oder die Steuerabrechnung: Die richtige Tätigkeit bringt dich bestimmt wenig später völlig übermüdet ins Reich der Träume. Allgemein ist auch die paradoxe Eingabe „Einschlafen? Ne also wirklich, das will ich gar nicht. Wäre ja fast schade, einzuschlafen…“, sinnvoller als das unablässige Betrachten der Uhr. Denn der Schlaf ist wie ein Vogel auf dem Arm. Man darf ihn nicht zwingen, zu kommen oder auf dem Arm sitzen zu bleiben. Man kann es ihm nur möglichst angenehm machen. Hoffentlich hat dich der Artikel jetzt nicht völlig gelangweilt und müde zurückgelassen. Und doch ist es keine Schande, jetzt die Augen für 20 Minuten zuzumachen. Denn dann wirst du später in deinem Gedächtnis besser auf das gerade Gelesene zurückgreifen können. Viel Spaß dabei und eine erholsame Nacht!
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