Vor fast genau einem Jahr ging’s los: Rauß aus den vier Wänden, neuen Herausforderungen begegnen und über den Tellerrand schauen. So weit geschaut habe ich allerdings nicht: Es ging nach Südengland in eine Schule für Kinder mit Lernbehinderungen, in der ich einen Freiwilligendienst leiste. Zunächst war alles neu für mich: Meine Kollegen, meine Mitfreiwilligen und natürlich die Kinder. Mit der Zeit wurde alles vertrauter und ich habe an neuen Erfahrungen und Erkenntnissen gewonnen. Was ich im Umgang mit lernbehinderten Kindern gelernt habe, habe ich hier aufgeschrieben.
Du bist doch behindert
Die Kinder hier haben eine globale Entwicklungsstörung. Das kann ganz klassisch Down-Syndrom und Autismus sein, aber auch andere Störungen und Syndrome wie zum Beispiel das Prader-Willi-Syndrom, das weniger bekannt ist. Oft kenne ich die genaue Diagnose der Kinder gar nicht, denn es kommt auch häufig vor, dass sich verschiedene Dinge mischen, wie zum Bespiel Autismus und Down-Syndrom. Ich könnte zwar die genaue Diagnose nachlesen, aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass jedes Kind eben anders ist und dann Autismus nicht gleich Autismus ist.
Vertrauen ist alles
Zu Beginn meines Freiwilligendienstes musste ich mich nicht nur in das neue Arbeitsumfeld einarbeiten, sondern vor allem die Kinder kennenlernen. An einem normalen Arbeitstag helfe ich zunächst einem Kind im Haus beim Aufstehen und Fertigmachen, bevor wir dann gemeinsam frühstücken. Später in der Schule gehe ich in eine andere Klasse und bin mit einem anderen Kind zusammen. Beim Mittagessen und nach der Schule dann wieder mit einem Kind aus meinem Haus.
Durch die gemeinsam verbrachte Zeit lernt man sich kennen. Ich lerne wie das Kind so „tickt“ und das Kind lotet aus, ob es mir auch vertrauen kann. Dabei ist es wichtig, von Anfang an authentisch und vor allem ehrlich zu sein. Ein ganz alltägliches Beispiel: Manche Kinder benötigen eine extra Portion Motivation, um zum Beispiel aus dem Minibus auszusteigen, nachdem wir einen Ausflug gemacht haben. Wenn ich dann dem Kind erzähle, dass es Nudeln zum Mittagessen gibt, weil ich weiß, dass es Nudeln gerne isst und es dann aber Kartoffeln gibt, dann ist das schlichtweg gelogen. Das Kind stellt dann spätestens am Tisch fest, dass es keine Nudeln gibt und merkt, dass ich es angelogen habe, nur um es zu motivieren. Sowas ist nicht nur gemein, sondern tut auch der Beziehung zum Kind nicht gut.
Zeit ist nicht wichtig
Während der Arbeit wird meine Geduld nicht nur einmal auf die Probe gestellt. Im Grunde genommen sogar so oft, dass ich manchmal denke, ich müsste doch der geduldigste Mensch der Welt sein. Was natürlich Quatsch ist, denn irgendwann ist auch bei mir der Punkt erreicht wo ich mir nur noch denke: „Echt jetzt?“ Für viele Kinder hier spielt Zeit keine Rolle. Die meisten leben in ihrer eigenen Welt und kennen nicht das Gefühl, sich beeilen zu müssen, weil jemand anderes auf sie wartet. Es ist egal, ob es jetzt fünf oder zehn Minuten dauert, um sich die Schuhe anzuziehen. Ich denke mir dann oft: „Jetzt mach doch einfach, das geht doch flott.“ Aber im Grunde ist es auch egal, wie lange es dauert, denn sie haben ja keinen Termin und es ist nicht schlimm, wenn sie ein bisschen später zum Unterricht kommen. In so einer Situation vergleiche ich dann oft die Kinder mit nicht behinderten Kindern. Wenn ich früher zu spät zum Unterricht gekommen bin, dann war das immer unangenehm und ich habe mich entschuldigt. Der Lehrer hat mir dann meisten einen warnenden Blick zugeworfen und mich so wissen lassen, dass ich doch bitte in Zukunft pünktlich bin.
Bei den Kindern hier ist das anders. Da sagt der Lehrer nichts, wenn sie etwas zu spät kommen. Und genau da liegt der Unterschied: Für manche Kinder hier ist eine für uns alltägliche und simple Tätigkeit eine echte Herausforderung. An manchen Tagen fällt ihnen das Anziehen der Schuhe einfacher als an anderen Tagen. Und manchmal dauert es dann eben zehn Minuten anstatt ein paar Sekunden. Warum das so ist, hat unterschiedliche Gründe. Ein paar Kinder brauchen einfach sehr lange, um verschiedene Informationen im Gehirn zu verarbeiten. Das kann man sich ungefähr so vorstellen: Ich sage dem Kind: „Ziehe bitte deine Schuhe an.“ Das Kind hört die Information und das Gehirn braucht einfach länger als unseres, um die Information in „Ok, ich soll meine Schuhe anziehen, also muss ich erst mal die Schuhe aus dem Regal holen und sie mir dann anziehen.“ umzuwandeln. Das verzögerte Verarbeiten verschiedener Informationen ist allerdings nur ein Grund. Ein anderer kann sein, dass sie wegen zu vieler Menschen um sie herum abgelenkt werden oder auch einfach, dass sie keine Lust haben, zur Schule zu gehen.
Das Leben ist so einfach und doch unglaublich kompliziert
Manchmal denke ich, wie einfach das Leben der Kinder hier doch eigentlich ist. Sie müssen sich nicht um Schule oder Studium, Haushalt und Familie sorgen. Was am Ende des Tages zählt ist, dass sie einen guten Tag hatten und das kann doch nicht so schwer sein. Aber wer so denkt, liegt meilenweit daneben. Klar, die Kinder hier müssen sich nicht darum sorgen, wie sie Geld verdienen oder eine Wohnung finden. Das bedeutet allerdings nicht, dass sie keine Sorgen haben. Denn ihre Sorgen und Ängste sind einfach anders als unsere. Für die Kinder kann es eine Herausforderung sein in einen Raum voller Menschen oder einen Supermarkt hineinzugehen, für die Zeit einer Mahlzeit am Tisch sitzen zu bleiben oder auch einer Geräuschkulisse ausgesetzt zu sein. Diese Dinge können für uns zwar auch unangenehm sein, aber wir können sie meistens ausblenden und so besser damit umgehen.
Kommunikation kennt viele Wege
Wenn wir einem anderen Menschen gegenüberstehen, kommunizieren wir meist über das gesprochene Wort, Mimik und Gestik. Das ist für uns der einfachste Weg, zu kommunizieren. Für manche Kinder hier ist das anders. Sie kommunizieren mit Hilfe von Symbolen, sogenannten PECS (Picture Exchange Communication System) oder auch Signalong, einer Art Zeichensprache. Natürlich spielen auch für sie das gesprochene Wort, Mimik und Gestik eine Rolle, aber unter Umständen nicht so wesentlich wie für uns.
Ein paar Kinder hier haben Probleme mit dem Sprechen und können nur verschiedene Laute formen, die dann dem eigentlichen Wort ähneln. Wiederum andere Kinder sprechen gar nicht. Trotzdem ist Kommunikation unverzichtbar. Wie ein Kind kommuniziert, hängt aber ganz vom Kind selber ab. Manche Kinder benutzen die Zeichensprache, die ähnlich wie Gebärdensprache funktioniert. Man benutzt allerdings nur die Hände zur Kommunikation und die Zeichen unterstützen nur das gesprochene Wort. Deswegen ist es wichtig, neben dem gebärden auch noch zu sprechen.
Eine andere Art der Kommunikation sind die PECS. Die Symbole verwendet man auch zusätzlich zum gesprochenen Wort. Mittlerweise gibt es das Ganze auch als App, die die Kinder auf einem iPad gespeichert haben. Da kann man dann verschiedene Symbole anklicken und die App spricht die Symbole auf Wunsch laut aus.
Du bist gut so, genau wie du bist
Von all den Erfahrungen, die ich über das Jahr gemacht habe, hat sich allerdings eine ganz besonders hervor getan: Im Umgang mit behinderten Menschen habe ich gelernt, welche unterschiedlichen Lebensweisen und Facetten es vom Leben gibt. Ein Mensch mit Autismus sieht die Welt anders als ich und du oder als jemand mit Down-Syndrom. Wir haben unterschiedliche Sorgen und Ängste, aber auch unterschiedliche Talente, die uns am Ende zu dem Menschen machen, der wir sind. Und das macht jeden Menschen, egal ob mit oder ohne Behinderung, einzigartig.
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