Dieser Text ist die Fortführung von „Goldene Fußspuren“ und damit ein weiteres Mal ein fiktionaler Beitrag. Hier begibt sich die Hauptfigur erneut in die Bücherhöhle, die ihr bereits kennengelernt habt. Falls ihr genau wie sie Sehnsucht nach einer neuen Begegnung mit dem Mann mit dem Grübchenlächeln, den braunen Locken und den Wunden an den Handgelenken habt, dann seid ihr hier richtig.
Sie nahm noch einen letzten Schluck von der Abend-Brühe, denn diese würde bereits kalt sein, wenn sie zurückkäme. Doch jetzt wollte sie sich auf den Weg machen, das hatte sie sich vorgenommen. Eigentlich hatte sie seit dem letzten Besuch in der Höhle immer wieder darüber nachgedacht, bald erneut hinzugehen. Denn da waren so unglaublich viele Fragen im Leben, die sie beschäftigten. Und gleichzeitig war ihre Seele hungrig nach Nähe und Begegnung, die pure intellektuelle Antworten nicht befriedigen konnten.
Sie brauchte mehr als Antworten. Sie hatte tiefe Sehnsucht nach Liebe und Annahme, die sie auf eine Art berühren und erfüllen würden, dass sie endlich wieder Frieden spüren könnte, der komplett unabhängig von ihren Gedanken und Gefühlen war. Sie wusste, dass er das bewirken konnte, er hatte es schon so häufig getan. Genau deswegen war sie ja so dermaßen frustriert darüber, wie schnell sie den Frieden und sogar das Vertrauen auf seine liebevolle Begegnung verlieren konnte.
Den Schritt in die Höhle erneut wagen
Diese Gedanken begleiteten sie, als sie den gut bekannten Trampelpfad zur Bücherhöhle einschlug. Sich auch nur auf den Weg zu machen, war eine aktive und nicht selbstverständliche Entscheidung. So häufig verplemperte sie einfach ihre Zeit mit Filmen oder Serien oder in Lustlosigkeit. Nicht, dass Serien oder Filme per se schlecht waren. Doch die Hürde, sich einfach vor den Laptop zu hocken, anstatt sich in die immer auch herausfordernde Begegnung mit ihm zu investieren, war unglaublich niedrig. Heute zumindest hatte sie es geschafft. Sie stand bereits vor dem Tor und würde jetzt ganz sicher nicht mehr umkehren. Was hatte er ihr heute wohl zu sagen?
Gespannt und auch mit einigen Fragen im Kopf drehte sie ihren goldenen Schlüssel im Schloss herum und betrat im nächsten Moment den Eingangsbereich. Wie beim letzten Mal lagen Kuschelsocken für sie bereit, die sie anstelle ihrer Stiefel überstreifte. Dann schritt sie weiter in die Bücherhöhle und ließ ihren Blick über die komplett gefüllten meterhohen Bücherregale aus dunklem, edlem Holz schweifen. Der Anblick einer solchen Fülle produzierte in ihr immer ein widersprüchliches Gefühl. Zum einen liebte und sammelte sie Bücher leidenschaftlich und träumte von einer anschaulichen Bibliothek, wenn sie einmal ein eigenes Haus haben würde. Zum anderen machten ihr Bücher immer deutlich, was sie alles nicht wusste. Wie schön es doch wäre, alles wissen und verstehen zu können!
Er, den ihre Seele liebt
Das Geklapper von Geschirr lenkte sie ab von diesem nicht sehr bescheidenen und definitiv nicht heiligen Gedanken. Da kam er wieder, der, den ihre Seele liebte. Derjenige, der sie faszinierte wie keiner sonst. Der sie in seinen Bann zog, so offen und ehrlich war und für immer mysteriös blieb. Der sich manchmal meilenweit entfernt anfühlte und dann in ihren schwierigsten Momenten immer zur Stelle war. Von dem sie sich immer angenommen wusste und vor dem sie sich immer ungenügend fühlte.
„Meine Schöne, meine Freundin“,rief er ihr entgegen und wartete dieses Mal auf sie, bevor sie gemeinsam zum Kamin schritten. Er stellte das Tablett ab, auf dem sie zwei Schalen mit Lasagne vorfand. Wie herrlich das duftete! „Magst du mit mir zu Abend essen?“ fragte er sie wohl eher rhetorisch, denn sie nickte selbstverständlich heftig mit dem Kopf. Wer würde sich solch ein Angebot schon entgehen lassen?
Komm, wie du bist!
Bevor sie sich setzen konnte, entdeckte sie wieder das traumhafte Perlenkleid auf ihrer Sessellehne. „Warum hängst du es nicht in den Eingang?“, wollte sie wissen, „Dann würde ich schon umgezogen zu dir kommen.“ Das hatte sie eigentlich ziemlich nebensächlich gesagt. Weil er nicht sofort antwortete, blickte sie zu ihm auf. Offensichtlich wollte er ihre Aufmerksamkeit haben für das, was er jetzt sagte. Sie sah in seine warmen, braunen Augen und war wieder fasziniert von den Flammen, die darin loderten. Irrte sie sich oder wurden sie tatsächlich intensiver, je länger sie hineinschaute?
„Meine Freundin“, begann er in seiner melodischen, ernsthaften Art. „Ich möchte, dass du immer genau so zu mir kommst, wie du gerade bist. Dieses Kleid ist deine Identität in mir, an der du zwar festhalten, die du aber nicht selbst erschaffen kannst. Ich allein spreche diese Identität über dich aus. Das ist die Sicherheit für dich, dass sie auch stimmt und unumstößlich festgelegt ist. Du kannst deinen Alltag und deine Entscheidungen von dieser Identität speisen lassen. Doch du kannst sie dir nicht selbst anziehen. Das tue ich allein in der Autorität, die mir vom Vater verliehen wurde.“ Gebannt hing sie an seinen Lippen, verzückt darüber, dass er sie jetzt schon mit seiner Antwort überrascht hatte. Das ging ja gut los!
Die Freiheit, ganz sie selbst zu sein
„Ich möchte auch gar nicht meine eigene Identität festlegen“, hörte sie sich sagen. „Was du über mich aussprichst, ist tausendmal stärker als alles, wozu ich mich selbst entscheiden könnte.“ Diese Aussage entlockte ihm sein unwiderstehliches Grübchenlächeln. Wie konnte er nur so gut zu ihr sein? Auch wenn er häufig komplett anders reagierte, als sie es erwartete, fühlte sie sich nie dumm oder bloßgestellt in seiner Nähe. Zufrieden stellte sie fest, dass in ihr in gewisser Weise doch ein tiefes Vertrauen zu ihm stecken musste, weil sie sich total frei fühlte, ganz sie selbst zu sein.
„Außerdem möchte ich den Moment nicht missen, wie du in meiner Gegenwart transformiert wirst“, nahm er den Gedanken wieder auf. „Möchtest du, dass meine Wahrheit dich nachhaltig und tiefgreifend verändert?“ „Oh ja,“ kam die sofortige Antwort. Und gleich darauf spürte sie ein weiteres Mal, wie sich das Kleid ihrer Träume anstelle ihrer Alltagskleidung auf ihrem Körper ausbreitete. Sie blickte an sich herunter und sah, dass sie makellos schön war.
Von Gefühlen und Identität
„Soll ich dir ein Geheimnis verraten, meine Schöne?“, brummte er liebevoll. Erneut wartete er darauf, dass sie in seine Augen blickte. „Genau so sehe ich dich in jedem Augenblick, seitdem du mich in dein Leben eingeladen hast. Denn seit dieser folgenreichen Entscheidung hast du dazu eingewilligt, dass ich deine Identität festlegen darf.“
„Wenn das wahr ist“, gab sie zurück, „warum fühle ich mich dann meistens überhaupt nicht so? Und warum willst du dann immer, dass ich mich hier in deiner Umgebung transformieren lasse?“ „Seit wann bestimmen Gefühle, wer du bist?“ kam die Rückfrage. „Im Gegenteil, ich bringe dir bei, wie du so im Leben herrschen kannst, dass deine Gefühle deiner Identität folgen.
Und was das Transformieren angeht, so ist das Teil des Mysteriums der menschlichen Natur auf Erden. Bis zum Ende des Zeitalters sind die Menschen in der Welt von ihrer sündigen Natur beeinflusst. Du wurdest ein für alle Mal reingewaschen und deine Füße müssen nun noch täglich reingewaschen werden. Verstehst du?“ Ja und nein, wollte sie antworten, doch sie blieb stumm, um über diese Worte nachzudenken. Zumindest wollte sie diese Perspektive, dass er sie immer in diesem Kleid sah, mehr zu ihrer eigenen Perspektive werden lassen.
Was es bedeutet, dass er sie liebt
„Das ist genau der Auftrag, den ich dir letztes Mal gegeben habe. Erinnerst du dich?“ Sie nickte und verschwendete keine Sekunde daran, überrascht zu sein, dass er natürlich wieder wusste, was in ihr abging. „Du hast gesagt, dass ich darüber nachdenken soll, was es bedeutet, dass du mich liebst.“ Nun nickte er zustimmend. Sie fuhr fort: „Weißt du, das bringt mich gleich zu einer meiner Fragen.“ „Schieß los“, ermutigte er sie. Sie hatten sich mittlerweile in den Sesseln niedergelassen. Wann genau das geschehen war, hatte sie gar nicht mitbekommen. „Also“, sprach sie weiter, „wie kann ich das denn mehr in meinen Alltag einfließen lassen?“ Sie hatte sich spontan entschieden, die Frage so zu formulieren und nicht zu fragen, warum dieser Gedanke ihr ziemlich fern im Alltag war. Es klang konstruktiver.
„Das geschieht auf viele Weisen und du kannst lernen, diesen Momenten und Hinweisen mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Du weißt, dass alles Gute von mir kommt. Alle guten Dinge in deinem Leben sind eine direkte Botschaft von mir an dich, dass ich da bin und dich liebe. Die beste Strategie, um diese Geschenke aktiver wahrzunehmen, ist, sie mit Dankbarkeit ins Bewusstsein zu rufen.“
„Und wenn es mir schlecht geht und ich absolut nichts Gutes sehen kann?“, erwiderte sie in ihrer manchmal etwas unüberlegten Art. Als er antwortete, war sie ihm insgeheim dankbar, dass er nicht die offensichtliche Antwort gegeben hatte, es gebe Gutes in jeder Situation. Stattdessen sagte er: „In deinen dunkelsten Momenten bin ich ganz, ganz nah. Am Ort des Zerbruchs kann sich meine Liebe erst richtig entfalten. Selbst wenn du an der Situation schuld sein solltest“, beantwortete er auch ihre ungestellte Frage. Auch darüber musste sie erst wieder nachdenken.
Im Kampf mit Unfrieden
„Ich sehe, dass du heute mit ruhigerer Seele zu mir gekommen bist“, brach er die Stille. „Ja, das ist richtig“, gab sie zu. „Das liegt daran, dass du mir gestern und heute bereits begegnet bist. Gestern war es besonders bedrückend und heute war ich ziemlich frustriert, dass mein innerer Frieden so unbeständig ist.“ Er neigte den Kopf ein wenig, um ihr zu signalisieren, dass er aufmerksam zuhörte. „Ja, ich war verzweifelt gestern. Nicht, weil ich irgendwie Probleme mit der Arbeit oder anderen Dingen gehabt hätte. Eigentlich läuft alles ganz gut momentan. Doch mein Endgegner ist dieser innere Unfrieden. Wenn ich zuversichtlich bin, dann kann ich fröhlich durch Herausforderungen gehen. Das habe ich schon erlebt. Aber gegen diesen Unfrieden fühle ich mich machtlos.“
„Was hast du dann getan?“ Er wollte offensichtlich wissen, wie die Geschichte weiterging. „Ich habe auf meinem Bett gesessen und innerlich zu dir geschrien. Und dann plötzlich habe ich in meinem Herzen gespürt, dass du bei mir bist. Du hast mein Herz verstehen lassen, was so schwer vom Kopf ins Herz zu bekommen ist. In dem Moment habe ich begriffen, dass du einsam am Kreuz hingst, damit ich niemals allein sein muss. Du hast sogar Einsamkeit und Überforderung auf dich genommen.“ Bei diesen Worten war ihr Blick unwillkürlich von seinem Gesicht über den Hals mit der Perlenkette auf seine Handgelenke hinabgeglitten. Die Wunden sahen heute noch hässlicher aus als in ihrer Erinnerung. Konnte es sogar sein, dass sie gerade am Bluten waren?
Eine Träne wie ein Diamant
„Und das habe ich aus voller Überzeugung und ohne es zu bereuen getan“, seine Stimme war sanft, tief und leise. Sie blickte wieder in seine Augen, die sich mit Tränen gefüllt hatten. Eine kostbare Träne kullerte schimmernd wie ein Diamant seine Wange hinunter.
Sie wollte ihn trösten, wusste aber nicht, wie. Nicht einmal im Ansatz konnte sie den Schmerz begreifen, den er auf sich genommen hatte und den er anscheinend immer noch mit sich trug. Da streckte er seine Hand aus und sie nahm sie in ihre beiden und küsste sanft jeden einzelnen Finger. „Ich verdanke dir mein Leben und danke dir dafür viel zu selten“, flüsterte sie kaum hörbar. Wieder war Stille und sie nahm sich vor, diesen Moment in ihrem Herzen zu bewahren.
Tieferes Wissen
Nach einer kurzen Weile räusperte er sich, wie um seine Stimmenbänder wieder zum Reden zu animieren. Dann fragte er: „Du hast noch große Fragen über deine Zukunft, die dich beschäftigen. Du wirst sie stellen, wenn du dazu bereit bist.“ Er kannte sie durch und durch.
Als sie etwas später wieder goldene Fußspuren auf dem Pfad hinterließ und den Goldstaub auf ihren Händen betrachtete, stellte sie fest, dass sie ihn gar nicht über die politische Situation in der Welt oder über die Weisheit der Welt befragt hatte. Doch sie fühlte sich so, als hätte sie sich mit tieferem Wissen angefüllt; mit einer Liebe, die sich für die Freunde aufopfert, die Tod und Verderben besiegt hat.






A Tear Like a Diamond
Schreibe einen Kommentar