Dass sie ausgerechnet am 23. September 2023, dem Tag vor dem höchsten jüdischen Feiertag, nach Jerusalem zog und welche Auswirkungen das auf ihre ersten Tage im Heiligen Land haben sollte, stellte sich erst heraus, als Norina den Flughafen verließ und weder Busse noch Bahnen fuhren. An Yom Kippur selbst fand sie sich durch eine einmalige Begegnung ungeplant und unvorbereitet in der Synagoge von Jerusalems ultra-orthodoxen Gemeinschaft wieder, ohne so recht zu wissen, wie ihr geschah.
Da stand ich nun an meinem ersten vollen Tag in Israel, genau an dem Ort, an dem ich nicht hätte sein sollen. So wurde es mir vorher gesagt. Und falls es mich doch einmal dorthin verschlagen sollte, dann auf keinen Fall in einem kurzen Sommerkleidchen, wie ich es gerade trug. Wenigstens bedeckte es meine Schultern. Ich hatte ganz sicher nicht geplant, nach Me’a She’arim zu gehen. Und noch weniger hätte ich dabei einen Besuch in der Synagoge zur Hauptgebetszeit eingelegt. Doch genau dort befand ich mich an Yom Kippur, dem Tag der Sühne und Vergebung nach jüdischem Kalender.
Eintauchen in ein anderes Universum
Als ich meiner neuen jüdischen Bekannten folgte, erahnte ich das Ziel bereits. Und dann überschritt ich mit ihr die Grenze, hinter der Touristen ausdrücklich nicht willkommen waren. Eine andere Welt öffnete sich. Zuerst fiel mir der massige Müll und der Dreck auf. Dann die heruntergekommene Umgebung.
Und schließlich die zahlreichen gleich gekleideten Kinder auf der Straße. Alle Jungs und Männer trugen Schläfenlocken, lange schwarze Hosen und weiße Hemden. Alle Mädchen und Frauen mindestens knielange Kleider ohne Ausschnitt, die Haare entweder zusammengebunden oder unter einem Kopftuch. Ich sah auch schwarz gekleidete, von Kopf bis Fuß verschleierte Mädchen.
Warten auf den Rabbi
Wir wurden kritisch beäugt, aber das ignorierte meine Begleiterin geflissentlich. Sie meinte, sie kenne die meisten Leute hier und man kenne sie, aber sie suchte keinerlei Kontakt und vermied ihre Blicke. An einer Straßenecke machten wir halt und setzten uns auf die Bordsteinkante. Jetzt hieß es warten, länger als gedacht. Wir warteten auf den alten Rabbi, den meine Begleiterin glühend verehrte. Sie war extra für ihn hergekommen. Dass ich seinen Namen noch nie gehört hatte, war für sie schwer zu glauben, auch wenn sie wusste, dass ich Christin und Deutsche bin.
Für sie war dieser Rabbi ihr Retter. Er sei ein einfacher, demütiger Mann, der sich der Armen und „Unnormalen“ annahm, wie sie es ausdrückte. Für sie konnte man nur in der Wahrheit leben, wenn man „an Gott, an sich selbst und an seinen Rabbi glaubt“. Ihren Namen nenne ich nicht, weil sie ihn mir erst in der letzten halben Stunde unserer gemeinsamen Zeit nannte und ich ihn leider nicht behalten konnte. Nach meinem Namen fragte sie nicht. Wir tauschten auch keine Nummern aus. Die Bekanntschaft sollte wohl nur für diesen Nachmittag sein.
Wie zwei bunte Vögel
Ich weiß auch gar nicht, was passiert wäre, hätte ich dort mein Smartphone aus der Tasche genommen. An religiösen Feiertagen wie auch während Shabbat ist es gläubigen Juden nicht erlaubt, elektronische Geräte wie Handys zu bedienen. Darüber hinaus müssen sie auch zum täglichen Gebrauch speziellen koscher-Regeln entsprechen. Als wir da auf dem Bordstein saßen und ich mein weißes Tuch bereits um die Schultern gelegt hatte, kam eine Frau zu uns, die mich ansah und auf Hebräisch mit mir sprach. Auf mein hilfloses Schulterzucken hin griff sie beherzt nach dem Schal und legte ihn über meine Knie, während sie auf die Männer auf der anderen Straßenseite wies, die jedoch keine Notiz von uns nahmen.
Umgeben von schwarz-weiß-grau gekleideten Menschen fiel ich auf wie ein bunter Vogel. Doch glücklicherweise war meine Begleiterin noch bunter und zog mehr Blicke auf sich. Einige Kinder, besonders Mädchen, starrten uns unverhohlen an. Sie waren für die Temperaturen viel zu warm gekleidet und trugen überwiegend Crocks oder Schlappen und keine richtigen Schuhe. Ein Jahr später am gleichen Tag erfuhr ich, dass normale Schuhe, besonders solche aus Leder, an Yom Kippur nicht getragen werden durften, an anderen Tagen aber schon.
In gedrängter Prozession zur Synagoge
Die wartende Menge wuchs immer weiter an und drängte sich um den schließlich erscheinenden Rabbi wie um einen Popstar. In einer Prozession gingen wir den kurzen Weg zur Synagoge, falls ich das Gebilde überhaupt so nennen kann. Es war ein riesiges Gestell aus Stahl wie von Baustellen oder temporären Konstruktionen, nur dass dieses schon eine geraume Zeit dort stehen musste oder aber Jahr für Jahr genau für diesen Anlass wieder aufgebaut wurde.
Die „Wände“ bestanden aus weißen oder bedruckten Plastikplanen, die den Innenraum einer Synagoge nachempfinden sollten. Die Männer gingen alle durch den Haupteingang in die große Halle. Wir Frauen mussten improvisierte Treppen zu einer Empore hochsteigen. Die Bewohner von Me’a She’arim haben definitiv keine Berührungsängste. Das Gedränge war so dicht, dass man sich teilweise mit Gewalt durch die Spalten quetschen musste, um an den eigenen – bezahlten – Platz zu gelangen.
Lärmendes Gebet
Im Saal, auf den wir durch verdunkelte Plexiglasscheiben schauten – wahrscheinlich damit die Männer die Frauen von unten nicht sehen können, wie meine Bekannte vermutete –, war es gerammelt voll. Mehrere hundert Juden nahmen unten und oben am Gebet teil, neigten sich vor und zurück, setzten sich, standen wieder auf, lasen die Texte aus dem Gebetsbuch vor sich murmelnd oder stimmten in eine Art Sprechgesang ein.
Für mich als Außenstehende, die kein Wort Hebräisch sprach, war keine klare Form erkennbar. Doch die Leute wussten, wann sie mitsangen und wann nur der Vorsänger rezitierte. Selbst dann wurde es nie ruhig im Gebäude. Überall wurde geredet, es gab keine andächtige Stille, sondern es bestand immer ein großes Gewirr aus Stimmen und Geräuschen. Kleine Jungs versuchten, bei gemeinsamen Abschnitten mit ihrem gesamten Lungenvolumen als die lauteste Stimme hervorzutreten.
Jeshu oder Jesus?
Meine Begleiterin stand die meiste Zeit auf einem Stuhl, damit sie den „Rav“ besser sehen konnte. Sie sang ihre ganz eigenen, nicht abgelesenen Gebete mit einer wunderschönen hellen Stimme. Danach unterhielten wir uns darüber, wie es wohl aussehen würde, wenn Jeshu endlich wiederkäme – so wird Jesus eher abfällig von einigen Juden genannt. Sie erwartete die Ankunft des Messias sehnsüchtig. Er würde für Ordnung und Gerechtigkeit sorgen.
Ihr wurde beigebracht, dass Jeshu damals aufgrund von Ungeduld von seinem Rabbi verstoßen wurde und er sich anschließend von den Juden abgewandt hatte. Hätte er auch nur zwei Minuten länger gewartet, hätte er die Welt bereits erretten können. Aber so mussten wir alle diese lange Zeit auf seine Wiederkunft warten. Es überraschte sie zutiefst zu hören, dass Jesus durch und durch Jude gewesen und sein Leben lang geblieben ist und sich überwiegend mit Juden umgeben hatte. Sie fragte mich mehrfach, warum Christen Juden hassen sollten, wenn Jesus doch jüdisch gewesen ist. Darauf wusste ich auch keine gute Antwort.
Worte sind tödlicher als Waffen
Für sie war es gar keine Frage, dass wir zum gleichen Gott beten. Unsere initiale Begegnung war am Damaskus-Tor, als sie mich nach Wasser fragte. Durch mein Gespräch mit meinem vorigen Begleiter hatte sie herausgefunden, dass ich Deutsche bin. Ihre eine Großmutter hatte sechs Jahre in Auschwitz verbracht und die andere ist möglicherweise Nazi gewesen. Sie fragte mich, ob meine Großeltern Juden umgebracht hätten und ob man in Deutschland vom Zweiten Weltkrieg wusste.
Sofort erzählte sie mir Teile ihrer Familiengeschichte und im Laufe des Nachmittags auch sehr viel aus ihrem eigenen Leben. Dabei war ihre wiederkehrende, eindringliche Aussage, dass Waffen bei weitem nicht so gefährlich sind und nicht so viel Schaden anrichten können wie Worte. Waffen löschen Leben aus. Worte töten Menschen, sodass sie noch am Leben bleiben und den Tod an ihre Umgebung weitergeben. Sie kämpfte zu dem Zeitpunkt selbst um ihre Existenz, da man ihr alles genommen hatte, was ihr Leben vorher ausmachte. Der einzige Grund, warum sie noch nicht verrückt geworden war, seien die täglichen Gebete, bei denen sie alles zu Gott bringe, was sie belastet, damit sie nicht auch anfange, Menschen mit ihren Worten zu töten.
Die folgenschwere Einladung
Ab dem Punkt, an dem ich ihr sagte, dass Jesus mir alles bedeutet, in mir wohnt und ich ihn spüren kann, wollte sie mich unbedingt mit zu diesem Gebet nehmen. Zunächst dachte ich, dass sie einfach an einen Ort gehen wollte, an dem man in Ruhe und persönlich beten konnte. Diese Einladung freute mich sehr und ich nahm gerne an. Es waren ja nur zehn Minuten Fußweg dorthin. Und dann befand ich mich inmitten der einmaligen Gelegenheit, von einer gläubigen Jüdin in eines der bekanntesten ultra-orthodoxen Viertel Jerusalems geführt zu werden. Ganz wohl war mir nicht dabei, aber diese Möglichkeit wollte ich mir nicht entgehen lassen. Außerdem war der Austausch mit meiner neuen Bekannten unheimlich interessant und einzigartig. Sie achtete auch sehr gut auf mich und ließ mich selbst dann nicht alleine stehen, als der Rabbi die Straße betrat.
Den Weg aus dem Viertel musste ich bei anbrechender Dunkelheit alleine finden. Das war aber nicht so schwer und ich war schon etwas selbstbewusster geworden. Welch ein unverhoffter Nachmittag und Abend!
Friedhelm Müller
Ich fand den Artikel bereichernd, da er einen Echtzeitbericht bietet von einem Ort, den man selbst, kaum bis gar nicht betreten wird.
Vielen Dank für diese Einblicke.