Was kommt, wenn die Krise geht? Die nächste Krise: nach der Prime Time der Coronapandemie folgt nun die Energiekrise. Und natürlich brodelt weiterhin hochbedrohlich die Klimakrise. In diesen vielschichtigen Krisenzeiten ist es daher an der Zeit, über das Leitbild der Ökologisch-Sozialen Marktwirtschaft neu nachzudenken.
Zu Recht fordern Ökonomen, dass die Wirtschaft nach Corona wieder richtig Gas geben müsse, das aber möglichst ohne russisches Gas – und idealerweise ohne fossile Rohstoffe überhaupt. Ethische Aspekte scheinen dabei jedoch gegenüber ökonomischen Sacherwägungen eher in den Hintergrund zu treten. Ist in Deutschland der Boom der „Wirtschaftsethik-Industrie“ jetzt genauso vorbei wie die einst so resolute Hochkonjunktur der Zehnerjahre und der Hype um Fridays for Future? Kann man sich Wirtschaftsethik überhaupt leisten, wenn die Ökonomien erst einmal wieder richtig in Schwung kommen müssen bzw. der drohende Abschwung soweit wie möglich gebremst werden muss?
Individualmoralische Appelle an „ehrbare Kaufmänner“ und „edle Unternehmer“, bisweilen gekleidet im frisch gebügelten Manschettenhemd eines neuen Business-Ethics-Trends, waren nach der Finanzkrise der Nullerjahre an der Zeit. Wirtschaftsethische Tugendappelle an den Einzelnen bleiben auch wichtig. Sie verpuffen aber angesichts des Ursprungs der aktuellen wirtschaftlichen Krisen, der diesmal nicht bei Lastern wie Gier und Gewinnsucht liegt.
Markt braucht Staat und Staat braucht Markt
Unser Wohlstandsmotor, die Soziale Marktwirtschaft, leidet an Corona, leidet an Inflation und explodierenden Energiepreisen und all deren Folgen. Die Soziale Marktwirtschaft zeigt unter diesen Umständen ihre verletzliche Seite. Die Marktwirtschaft ist in diesen Krisenzeiten darum staatsbedürftig, helfen angesichts der Corona- und jetzt der Energiekrise nur milliardenschwere Hilfspakete, um Firmenpleiten, Privatinsolvenzen und den wirtschaftlichen Abschwung wenigstens einzudämmen. Gott sei Dank haben wir Bundesrepublikaner einen solch potenten Vater Staat.
Der derzeit erstarkende Etatismus, diese neue alte Staatsfrömmigkeit aber verkennt, dass besagte Krisen uns auch lehren, wie marktbedürftig wir wiederum sind. Das hat sich schon zu Beginn der Coronakrise gezeigt, als dank der Marktwirtschaft auch in Zeiten von Hamsterkäufen und einer nie gekannten kollektiven Klopapiersehnsucht die Supermarktregale immer wieder voll waren. Man mag sich nicht ausdenken, wie die Versorgungslage in diesen Zeiten in einer staatsdirigistischen Planwirtschaft ausgehen hätte. Spätestens der coronabedingte Lockdown produktiver Wirtschaftstätigkeit sollte erneut vor Augen geführt haben, wo eigentlich der Ursprung unseres Wohlstands liegt.
Auch die staatlichen Hilfspakete wären ohne jahrelang erfolgreiche Wertschöpfung auf einem freien Markt nicht in diesem Umfang möglich gewesen. Das zeigt den Wert und die Kraft des freien Unternehmertums im Rahmen der Sozialen Marktwirtschaft. Corona offenbart ebenso das enorme Risiko, das mutige Unternehmer für gute Güter, Dienstleistungen und Arbeitsplätze bereit sind auf sich zu nehmen. Der marktliche Wettbewerb wird auch ein wesentlicher Treiber von Innovation für die weitere Krisenbewältigung sein. Dabei muss jedoch ebenso die Bewältigung des Klimawandels als ein noch viel gefährlicherer Krisenherd auf dem Radar bleiben.
Soziale Marktwirtschaft als Erfolgsmodell der Vergangenheit …
Nach dem Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft geht es laut ihrem Erfinder Alfred Müller-Armack (1901-1978) um die Herausforderung, die Freiheit auf dem Markt mit sozialem Ausgleich zu verbinden. Der freie Markt schafft und mehrt Wohlstand, da wo er funktioniert. Nur der Markt ist fähig, die vielfältigen Bedürfnisse der Menschen unter effizienter Nutzung der dafür benötigten Ressourcen zu befriedigen. Der Markt sorgt zwar für diese Effizienz, allerdings hat er an sich keinen Sensus für Gerechtigkeit und Menschenwürde.
Wohlstand soll aber mithilfe des umverteilenden Sozialstaats allen in der Gesellschaft zugutekommen, besonders jenen, die von sich aus nicht befähigt sind, am Markt teilzunehmen. Mit Blick auf die Ärmsten und Schwächsten einer Gesellschaft ist der steuerfinanzierte Sozialstaat aller verbleibenden Lücken und Defizite zum Trotz systemisch organisierte Nächstenliebe. In einer Marktwirtschaft ohne nennenswerten Sozialstaat hingegen wären diejenigen, die am Markt nicht aktiv werden können, weil sie zu jung, zu alt oder zu krank sind, von der freiwilligen Nächstenliebe und Barmherzigkeit der Stärkeren abhängig.
… und der Zukunft?
Der erste Erfolg des ethisch fundierten Wirtschaftsmodells der Sozialen Marktwirtschaft war das deutsche Wirtschaftswunder nach dem Zweiten Weltkrieg. Aktuell müssen wir die Herausforderung bewältigen, die ökologische Nachhaltigkeit als drittes Element in dieses Erfolgsmodell zu integrieren. Das bedeutet, dass auch für die ökologische Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft der vom Staat geordnete und eingehegte Wettbewerb auf dem Markt der treibende Motor sein sollte, der jedoch immer da sozialstaatlich zu bremsen ist, wo die Schwächsten einer Gesellschaft sonst unter die Räder kommen.
Wichtige Impulse der ethischen Orientierung bietet dabei die katholische Soziallehre und Sozialverkündigung. Papst Franziskus betont in seiner vielbeachteten Enzyklika Laudato si‘ von 2015durchgehend die enge Verbundenheit und Untrennbarkeit von sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Gerechtigkeit. In der Ökologie geht es um die Beziehungen zwischen Lebewesen und ihrer Umwelt, in die auch der Mensch eingebunden ist. So ist Umweltschutz etwa in ökologisch fragilen Regionen des Globalen Südens auch ein Mittel der Armutsbekämpfung. Der Papst schreibt eindringlich: „Wir kommen jedoch heute nicht umhin anzuerkennen, dass ein wirklich ökologischer Ansatz sich immer in einen sozialen Ansatz verwandelt, der die Gerechtigkeit in die Umweltdiskussionen aufnehmen muss, um die Klage der Armen ebenso zu hören wie die Klage der Erde“ (LS 49). Laudato si‘ ist daher weit mehr als nur eine Umweltenzyklika, wie gemeinhin gesagt wird. Sie präsentiert vielmehr einen sozialökologischen Ansatz. Umweltengagement und Sozialengagement gehören also zusammen. Die Natur ist unser „gemeinsames Haus“. Es hat als „Hausordnung“ den solidarischen Umgang mit den globalen Ressourcen zum Schutz von Mensch und Umwelt, so der Papst. So soll deutlich werden, dass nicht nur Greenpeace, Grüne und Co. Umweltschutz können. Bei der Bewegung Fridays for Future machen schließlich auch Christians for Future und Churches for Future mit.
Mit dem Klimaschutz wird es in globaler Perspektive jedoch schwierig, wenn in wenigen Ländern, die es sich leisten können, umfassende Klimapakete geschnürt werden, die meisten anderen, weniger wohlhabenden Länder dies aber in finanzieller Hinsicht gar nicht können und in sozialer sowie in entwicklungstechnischer Sicht gar nicht wollen. Dem Klimaschutz dienen wir daher nur, wenn wir ihn mit wirtschaftlichen und sozialen Aspekten ausgleichen und verbinden. Nur dann ist er tatsächlich nachhaltig und globalisierbar. Nur ein zugleich ökologisch und ökonomisch erfolgreiches Modell wird andere Länder zu stärkerem Engagement ermuntern. Auch bei uns in Deutschland müssen wir echte Mehrheiten für einen stärkeren Klimaschutz gewinnen, gerade auch jenseits der Fridays-for-Future-Demos.
Wir werden all dies nicht mit radikalen Forderungen und Maximalpositionen erreichen, sondern mit gemäßigten und Schritt für Schritt kontinuierlich erweiterten Maßnahmen. In geradezu apokalyptischer Art und Weise, wie die selbsternannte „Letzte Generation“ es tut, den Klimaschutz über alles zu stellen und dabei die Konsequenzen für Wirtschaft, Soziales und den gesellschaftlichen Zusammenhalt auszublenden, mag kurzfristigen Stimmungen entsprechen, wird aber kaum langfristig erfolgreich sein. Es bedarf vielmehr einer klugen und konsequenten Transformation unserer erfolgreichen Sozialen Marktwirtschaft in eine Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft. Neu über das richtige Zueinander von Markt und Staat gemäß dem wegweisenden Leitbild der Ökologisch-Sozialen Marktwirtschaft nachzudenken, wird nach Bewältigung der aktuellen Energiekrise daher eine der wichtigsten Aufgaben der Wirtschaftsethik sein. Vielleicht und hoffentlich wird es dann irgendwann nach den gesammelten Krisen dieser Zeit ein zweites, ein im besten Sinne nachhaltigeres Wirtschaftswunder geben.
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