Im Mittelmeer und dem Atlantik wird verzweifelt nach dem sagenumwobenen Atlantis gesucht. Doch in der Nordsee wurde es längst gefunden. Was aber hat es mit dieser reichen Stadt auf dem Meeresgrund auf sich?

In überfüllten Gassen regt sich geschäftiges Treiben, der Duft exotischer Gewürze aus fernen Ländern liegt in der Luft und Händler bieten lauthals ihre Ware feil. Es herrscht das pulsierende Leben. Doch gemeint ist hier weder das antike Rom noch das hunderttorige Theben, das brütende Tyros oder die Seefahrermetropole Venedig. Es geht um Rungholt, das Atlantis der Nordsee!
Die Entdeckung Rungholts
Lange Zeit galten die im Volksmund kursierenden Legenden über eine reiche Stadt auf dem Grunde der Nordsee als märchenhafte Legenden ohne jedweden wahren Kern. Der Sage nach sollte Rungholt vor der nordfriesischen Küste, also im Westen von Schleswig-Holstein, unweit der Insel Pellworm und der Hallig Südstrand gelegen haben. Dem Amateurarchäologen Andreas Busch gelang in den 1920er-Jahren dann das Unglaubliche: Er stieß im Wattenmeer auf Siedlungsreste – und zwar genau dort, wo man Rungholt dem Mythos nach vermuten durfte. Neben Brunnen und Warften entdeckte Busch auch die Überreste einer hölzernen Schleuse, was die Auffassung von Rungholt als mittelalterlicher Handelsmetropole stützte. Bis heute entdecken Forscher im Watt alte Keramiken, die nachweislich zu 30 Prozent aus ferneren Ländern eingeführt wurden.
Der wohl bedeutendste Fund aber wurde Ende des Zweiten Weltkrieges gemacht und ist so wundersam wie die Geschichte seiner Entdeckung: Auf der Hallig Südfall, von wo aus auch Andreas Busch seine Erkundungen ins Watt gemacht hatte, lebte damals die Gräfin Diana von Reventlow. Eines Nachts vernahm sie ein wunderliches Flötenspiel. Sie folgte dem Klang in das von der Ebbe freigelegte Wattenmeer. Dort erblickte sie einen Mann, der auf einer seltsamen kleinen Flöte blies. Er war ein englischer Bomberpilot, der über der Nordsee abgeschossen worden war. Nichtsahnend von der herannahenden Flut verharrte er auf einer kleinen Sandbank. Die Gräfin nahm sich seiner an. Die kleine Flöte, die der Soldat im Watt gefunden hatte, stellte sich als eine Okarina heraus. Da ein ähnliches Instrument in der Archäologie für die schleswig-holsteinische Küste nicht bekannt ist, muss es durch den Fernhandel dort hingelangt sein. Ein eindeutiger Beleg für die wichtige Stellung Rungholts als Handelsmetropole!
Der Untergang Rungholts
Doch wie und warum kam es zum Untergang Rungholts? Und woher rührte der große Reichtum der Stadt? Welche Ware machte Rungholt so bedeutsam? Untersuchungen im Wattenmeer zeigen, dass der Boden an einigen Stellen sehr torfhaltig ist. So auch im Rungholt-Watt. Torf scheint dort im großen Stil abgebaut worden zu sein. Der Rohstoff lässt sich trocknen und zum Heizen verwenden, doch er war für Rungholt aus anderen Gründen bedeutsam. Die Nordsee war nämlich vor Urzeiten in das damalige Moorgebiet eingebrochen und hatte den Torf durch ihr ständiges Überspülen mit Salz angereichert. Dieses Salz wusch man in sogenannten „Salinen“ nun wieder aus dem Torf heraus und erhielt es schließlich in Reinform. Da Salz im Mittelalter überaus kostbar war und als weißes Gold bezeichnet wurde, gründete Rungholt darauf seinen Reichtum.
Doch der Reichtum führte in gewisser Weise auch zum buchstäblichen Untergang der Stadt. Die Bewohner Rungholts hatten sich auf einer Torflinse niedergelassen. Durch den Abbau des Torfs sank die Differenz zwischen Land und Meeresspiegel. Die Zweite Marcellusflut im Jahre 1362, die im Plattdeutschen als Grote Mandränke (in etwa: „Großes Ertrinken“) bezeichnet wird, hatte dann leichtes Spiel und übergab die Stadt mitsamt ihren Bewohnern dem Wattenmeer. An der Nordsee erzählt man sich, man könne noch heute von Zeit zu Zeit das Schlagen der Kirchturmglocke der versunkenen Stadt vernehmen.
Rungholt als Atlantis der Nordsee zu bezeichnen, ist ein Quatsch, der offenbar auf die Geilheit der Journalisten bzw. Medien auf neu erfundene, grosse, imponierende Begriffe zurück geht. Denn mit kurzen historischem Nachdenken bemerkt man, wie verquer dieser Begriff ist. “Atlantis” geht auf eine Erzählung von Platon zurück. Die stammt aus der Zeit rund 400 VOR Christus. Und er erzählt von einem Ereignis der viele Tausend Jahre vor seiner Zeit stattgefunden hat. Der Untergang von Rungholt ereignet sich aber im 14 Jh. NACH Christus.
Das Peinliche an dieser Effekthascherei liegt darin, dass es tatsächlich in der Nordsee ein Ereignis gibt, das diesen Namen verdient, weil es zeitlich recht gut passt. Das ist der Untergang des Doggerlands. Auch da wird der Begriff “Atlantis der Nordsee” verwendet, hier aber zu recht (nachzuprüfen mit einer Google-Suche).
Danke für Ihren Kommentar, Herr Pichler. Vorab: Ich würde Sie bitten, Diffamierungen wie “ein Quatsch” zu unterlassen, damit wir sachlich diskutieren können. Nun zum Inhalt: Ihre Anmerkung ist natürlich insofern richtig, als Platon Rungholt gar nicht gekannt haben kann, weil es lange nach seiner Zeit unterging. Der Verweis auf das Doggerland, das vor 8200 Jahren vollständig verschwand, ist gut, auch wenn Platon den Untergang von Atlantis auf 9600 vor Christus verortet. Es geht allerdings in diesem Text nicht um ein mögliches historisches Atlantis. Daher auch die Einschränkung “Das Atlantis DER NORDSEE”. Und auch “Atlantis” ist hier freilich nur im übertragenen Sinne als Bezeichnung für eine reiche untergegangene Insel gemeint.