Autismus wird in der Gesellschaft immer noch als eine alltagsfremde Krankheit empfunden, mit großen Berührungsängsten. Bis heute herrscht Jobmangel für Autisten. Wenige Unternehmen stellen sich den besonderen Anforderungen, die nötig sind, um Autisten auf der Arbeit zu betreuen. Sylvia Ganter sprach mit der Mutter eines Autisten.
Justin ist vierzehn Jahre alt und verbringt in seiner Freizeit gerne Zeit auf dem Fußballplatz und spielt Computerspiele, wie ein „normaler“ Junge in seinem Alter. In diesem Jahr die Diagnose: Autismus. Die Eltern sind erleichtert. Sie wissen nun endlich den Grund für das drastische Verhalten und die vielen Wutausbrüche ihres Sohnes. Leichter wird es aber nicht. Ein Interview mit der Mutter Claudia L. über den schweren Alltag, die Aggressionen und ihre Kraft.
Erzählen Sie uns etwas über Justin.
Justin lebt in seiner eigenen Welt. Er ist nicht zugänglich. Regeln kann er kaum akzeptieren und die Tagesstruktur durchzuhalten, gelingt ihm nicht. In der Schule ist er stark auffällig. Sein besserwisserisches Verhalten dringt immer wieder durch, auch den Lehrern gegenüber. Justin ist schnell unkonzentriert, abgelenkt und gelangweilt. Darüber hinaus wird er schnell aggressiv und brüllt. Unser Sohn macht dabei vieles im Haus kaputt. Computer und Fahrräder gehen unter seinen Händen zu Bruch, warum, können wir nicht wirklich feststellen. Sein unbelehrbares Verhalten ist oft unerträglich, er sieht sein Fehlverhalten meisten nicht ein und streitet Fehler ab und möchte keine Verantwortung dafür übernehmen. Im Allgemeinen ist er sehr auf sich bezogen, hat ständig Schmerzen und ist nahezu immer erschöpft. Ein aktives Familienleben ist mit ihm unmöglich, da er immer allein sein möchte. Nach der Schule oder dem Fußballtraining, nimmt er sogar seine Hauptmahlzeiten allein ein. Empathie ist für ihn ein Fremdwort, dadurch verletzt er oft die Gefühle seiner Mitmenschen.
Wie veränderte die Diagnose Ihr Leben?
Wir waren erleichtert, jetzt eine Erklärung für sein sehr schlimmes Verhalten zu haben. Kein Kind ist von Natur aus bösartig.
Besucht Justin eine „normale“ Schule, kommt er dort zurecht?
Er besucht das Förderzentrum hier im Ort. Er berichtet, dass er sehr gut klar käme, doch die Lehrer berichten etwas ganz anderes.
Was berichten die Lehrkräfte?
Sie sind froh, wenn er nicht da ist. Sie sagen ihm: „Es ist so schön ruhig ohne dich”. Selbst mir haben sie schon ihre Meinung zu Justin gesagt: „Es ist unerträglich mit Justin.“
Nehmen seine Mitschüler und Freunde Justin an, oder ist er ein Einzelgänger?
Justin hat Kontakte zu seinen Mitschülern in der Schule, doch nach der Schule in der Freizeit, hat er keine Freunde.
Sie lehnen ihn ab?
Er ist anders, das spüren die Kinder, mehr als einmal findet kein Treffen statt. Die Kinder können wohl nicht mit ihm, es ist für uns und für seinen Bruder doch auch schwer mit ihm umzugehen wegen seines fehlenden Sozialverhaltens.
Ihr Alltag ist nun ein völlig anderer. Was ist schwer?
Justin Struktur, Ordnung und Pflichten beizubringen, ist jeden Tag ein Kampf. Natürlich schmerzt auch die fehlende Nähe zu unserem Kind. Das ist schwer zu ertragen. Er benötigt Hilfe bei alltäglichen Dingen. Er kommt morgens schwer aus dem Bett. Justin gelingt es nicht, sein Zimmer sauber zu halten. Ich muss ihn bei der Tagesplanung und Organisation unterstützen. Selbst zur Körperpflege muss man ihn anhalten, da er sie meistens für unnötig hält.
Wie gehen Sie mit Justin um?
So normal wie möglich. Er bekommt viel Aufmerksamkeit, vieles muss ihm abgenommen werden.
Förderung ist vor allem bei Kindern mit Autismus wichtig. Wie fördern Sie ihn?
Wir halten ihn immer wieder an, aktiv zu werden und versuchen, ihm Struktur im Alltag vorzuleben. Mehr können wir vorerst nicht tun. Nun heißt es, die Gespräche mit den entsprechenden Beratungsstellen abzuwarten.
Justin schwächelt im sozialen Umgang, hat aber zahlreiche Stärken. Justin ist sehr gut in Erdkunde und Geschichte, auch Deutsch gehört jetzt zu den Fächern, die er nahezu problemlos bearbeitet. Er besitzt ein außergewöhnlich gutes sprachliches Verständnis und er kann gut kochen.
Haben Sie das Gefühl, dass Autismus noch zu wenig in der Gesellschaft akzeptiert ist?
Es ist viel zu wenig bekannt, selbst bei den Kinderärzten. Seit Jahren stand die Diagnose bei Justin im Raum, doch immer verschrieb man ihm Retalin. Die Ärzte haben mit der Diagnose ADHS viel Zeit vertan und das Jugendamt hat ihn durch falsche Maßnahmen seelisches Leid zugefügt. Die Herausnahme aus der Familie im Alter von fünf Jahren und Klinikaufenthalte haben dazu geführt, das es ihm viel schlechter ging. Wir Eltern wussten schon seit vielen Jahren, was unserem Sohn fehlt, doch die Ärzte meinten nur: „In unseren Unterlagen und Tests können wir kein Autismus feststellen.“
Setzten Sie sich ein, dass Autismus wahrgenommen wird?
Wir klären vor allem unser Umfeld über Autismus auf.
Die Firma SAP möchte mehrere hundert Autisten einstellen. Ihr Eindruck?
Sehr viel, wir hoffen, dass unser Sohn auch davon profitiert.
Mit Autismus des eigenen Kindes umzugehen ist nicht einfach für eine Mutter, wie geht Ihr Mann damit um?
Er kann jetzt seinen Sohn annehmen, wie er ist, versteht besser seine Bedürfnisse und versucht, gemeinsame Interessen (Fußball) auszubauen und ihn bei seinen Vorhaben zu unterstützen.
Spüren Sie Kritik und Verachtung in der Gesellschaft?
Die Nachbarn meiden uns. Spricht man sie an, sind sie sehr freundlich. Aber ihr Verhalten zeigt deutlich, dass sie keinen Kontakt wünschen.
Haben Sie Wünsche für die Zukunft?
Dass Ärzte die Diagnose schneller stellen können.
Gibt es Möglichkeiten, Justin medizinisch/psychologisch zu betreuen?
Ja, wir warten auf die Hilfe von der Beratungsstelle für Entwicklungsstörungen und Autismus in Kiel. Justin ist in psychologischer Behandlung und das seit Jahren.
Dem eigenen Kind Kraft geben und unterstützen kostet Kraft, was gibt Ihnen Kraft?
Meine Familie, die Erholung in der Natur und die eigene Psychotherapie geben mir Energie.
Mit der Diagnose zu leben fällt nicht nur dem Betroffenen schwer.
Ich denke an Justins liebenswerte Seite in schweren Stunden. So richtig damit leben kann ich kaum. Darum versuche ich mich nicht ständig damit zu beschäftigen. Es tut mir weh, dass er nie ein normales Leben leben kann und immer Einschränkungen spüren wird.
Vielen Dank für das Gespräch!
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