Wer war Täter im NS-System? Und wo verlief die Grenze? Zählten Menschen, die bei Deportationen wegschauten oder sich an jüdischem Eigentum bereicherten als Täter? Seit den 1990er-Jahren wandte sich die Forschung mehr und mehr den Tätern im NS-System zu und forschte sowohl im Bereich des Holocausts als auch in den Tiefen der ehemaligen NSDAP-Parteistrukturen im Hinblick auf verschiedene Tätergruppen.
Frauen als KZ-Aufseherinnen
Die Rolle der Frau wurde besonders zur Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland sehr stark durch bestimmte Symbole, wie beispielsweise das Mutterkreuz geprägt. Die Rolle der Hausfrau, Mutter und Ehefrau war im Blick der nationalsozialistischen Ideologie unverrückbar. Zwar konnten Frauen Verbänden wie der „NS-Frauenschaft“ (NSF), dem „Deutschen Frauenwerk“ (DFW) oder der „NS-Wohlfahrt (NSV) beitreten, blieben aber immer ihrer von den Nationalsozialisten vorgesehenen Rolle zugeteilt. So wurden Begriffe wie Zuschauerinnen, Mitläuferinnen oder auch Indifferente mit Täterinnen im Nationalsozialismus verbunden.

Frauen als Täterinnen wurden demnach im kollektiven Gedächtnis lange ausgeblendet und wenn überhaupt mehr in einer Art „Unschuldsposition“ verortet. Mit dem Beginn der Aufarbeitung weiblicher Verbrechen zwischen 1933 und 1945 entwickelte sich, ähnlich wie bei männlichen Tätern, eine gewisse „Prominenz“, die durch weibliche Stereotypen erzeugt wurde. Dies sorgte dafür, dass eine Art Kategorisierung von Schuld stattfand und manche Täterinnen als „normal“ bzw. „angepasst“ galten. Beispiele für solche Stereotypen sind Irma Greese, Ilse Koch oder Hertha Bothe. Sie alle waren Aufseherinnen in verschiedenen Konzentrationslagern.
Frauen führten aber auch Sekretariatsaufgaben, wie Fernsprech-, Fernschreib- und Funkanlagen bei SS- oder Polizeiregimenten sowie bei der Gestapo durch. Viele Täterinnen versuchten, sich nach Ende des Krieges von ihrer Schuld zu entbinden und stellten sich selbst als „Opfer“ des NS-Systems dar, das sie ausgenutzt und zu den vollführten Taten gezwungen habe. Der Fakt, dass Frauen zwar immer einem männlichen Kommandanten unterstanden, aber dennoch auf freiwilliger Basis im KZ arbeiteten, entbindet sie in diesem Fall nicht von ihrer Posten in der Täterschafts-Institution.
Sowjetische Kriegsgefangene als Täter – Die sogenannten „Trawniki-Männer“
Unterstützung der SS als Gegenleistung zur Inhaftierung als Kriegsgefangener; die Ausbildung sowjetischer Kriegsgefangener zu „Hilfstrupps“ der SS waren die sogenannten „Trawniki-Männer“. Der Name stammt vom Ortsnamen des Ausbildungslagers, das sich im polnischen Trawniki, etwa 40 Kilometer südöstlich von Lublin befand. Obgleich die Männer trotz ihrer Tätigkeit immer Kriegsgefangene blieben, wurden mit ihnen im Vergleich zu KZ-Häftlingen deutlich besser umgegangen. Sie bekamen kostenlose Verpflegung, medizinische Versorgung und je nach Stellung auch Urlaub beziehungsweise Ausgang. Der Unterschied zwischen ihnen und den sogenannten „Funktionshäftlingen“, auch „jüdische Capos“ genannt, war markant.

Die „Trawniki-Männer“ einer NS-Organisation zuzuordnen, ist sehr schwierig, da sie sich als Konglomerat verschiedener Gruppen identifizierten. So waren sie eine Mischung aus Schutzmannschaft, Gefolge der Waffen-SS, Hilfspolizei und mehr oder weniger rechtlosen Hilfstruppen. Eingesetzt wurden sie unter anderem bei größeren Deportationen, welche sie teils bis zum Ziel begleiteten, als auch bei Erschießungskommandos, der Räumung von Kranken- und Waisenhäusern und in den Vernichtungslagern im Osten.
Die Motive der Männer sind weitestgehend unbekannt. Allerdings lassen sich gewisse Beweggründe aufgrund des sozialen Standes und der Herkunft vermuten. Zum einen waren „Trawnikis“ äußerst antisemitisch geprägt und standen dem Gedanken der sogenannten „Endlösung“ nicht abgeneigt gegenüber. Von jüdischen Häftlingen und Überlebenden wurden sie als Männer mit „besonderem Arbeitseifer“ und daher als äußerst brutal beschrieben. Ein materieller Anreiz sowie die Möglichkeit, sich an jüdischem Eigentum bereichern zu können, könnte ebenfalls eine Motivation gewesen sein.
Das wohl bekannteste Gesicht der „Trawnikis“ war Iwan Demjanjuk, ein Ukrainer, der 1942 bei den Kämpfen um Kertsch auf der Krim in deutsche Kriegsgefangenschaft geriet. Dort drohte ihm der Hungertod, bis er schließlich zu den „Trawnikis“ ging. Demjanjuk war angeblich bis zu seiner Abkommandierung ins Vernichtungslager Sobibór an den Ghettoräumungen und den Deportationen im Rahmen der „Aktion Reinhardt“ im Generalgouvernement beteiligt gewesen. In Sobibór wurde er wie alle anderen dort eingestellten „Trawnikis“ möglichst schnell in die Ausführung der „Endlösung“ eingeführt.
Täter- vs. Opferperspektive – Die Rolle von jüdischen „Funktionshäftlingen“ in Konzentrations- und Vernichtungslagern
Die wohl geläufigste Bezeichnung eines sog. „Funktionshäftling“ im Konzentrationslager ist die des „Kapos“. Nach dem Historiker Lutz Niethammer ist dies eine Begriffsabkürzung der SS, die sich auf den Begriff der „Kameradschaftspolizei“ bezieht. „Kapos“ fungierten als „Vorarbeiter“ der SS und waren meist für Ordnung in den Lagern zuständig. Unter den Funktionshäftlingen herrschte, wie auch bei der SS, eine strenge Hierarchie. An oberster Stelle stand der sogenannte „Lagerälteste“. Er konnte wiederum die sogennanten „Blockältesten“ auswählen. Diese waren wiederum für Ordnung in ihrem jeweiligen Lagerblock zuständig. Zur Aufgabe des „Blockältesten“ zählten Verwaltungstätigkeiten im Block sowie Meldung von Verstößen der Blockinsassen.
Im Vergleich zu anderen Häftlingen hatten sie einige Vorteile, welche manche zu ihrem Vorteil oder auch zur Hilfe anderer Häftlinge nutzten; dennoch blieben auch sie Häftlinge und Gefangene des Konzentrationslagers, wohin sie einst deportiert worden waren. Sie bewegten sich demnach ebenfalls in ständiger Lebensgefahr. Dies äußerte sich meist in emotionalen Ausbrüchen in Form von Gewalt. Insassen beschrieben oft, dass jüdische „Kapos“ meist brutaler als SS-Angehörige gewesen seien. „Kapos“ konnten KZ-Insassen helfen, indem sie ihnen mehr zu essen oder warme Kleidung gaben, allerdings waren Güter dieser Art im KZ sehr rar. Dies sorgte dafür, dass, wenn jemand ein weiteres Stück Brot bekam, jemand anderes auf sein Stück Brot verzichten musste.
Ab 1942 waren „Kapos“ äußerst wichtig für den Lageralltag, weil mehr und mehr SS-Personal an die Front eingezogen wurde. Häftlinge mit krimineller Vergangenheit wurden vorzugsweise als „Funktionshäftlinge“ ausgewählt, da sich die SS einen besonders gewaltvollen Umgang mit den Opfern versprach. Manche „Kapos“ waren brutaler, um der Lager-SS zu gefallen. Dennoch schützte sie der Status des „Funktionshäftlings“ nicht vor willkürlichen körperlichen Strafen seitens der SS. Im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau waren beispielsweise im Mai 1944 etwa 67.000 „Funktionshäftlinge“ im Einsatz, die unter Beobachtung von lediglich 2.300 SS-Männern standen.
Debatten und öffentliche Diskurse rund um die Täterforschung
1) Die Goldhagen-Debatte 1996:
In der NS-Täterforschung wird seit den 1970er-Jahren über die Begriffe Intentionalisten und Funktionalisten debattiert. Die Überzeugung (Intention) stand dem persönlichen Vorteil, dem gesellschaftlichen Druck oder der Manipulation/Erpressung (Funktion) als Beweggrund, sich an den Verbrechen der Nationalsozialisten zu beteiligen, gegenüber. Mit der Debatte rund um Daniel Goldhagens Dissertation erfuhr die NS-Täterforschung eine zusätzlich äußerst interessante Perspektive. Goldhagens These standen einige Historiker und Historikerinnen entgegen; so auch beispielsweise Christopher Browning.
Goldhagen äußert die These, dass er Täter zu Zeit des Nationalsozialismus als Individuen im Hinblick auf Sozialisation und Weltbild betrachtet. Sie entschieden daher nicht aufgrund von Gruppenzwang oder Manipulation, sondern aus Gründen ihrer persönlichen Prägung. Die Rede ist hier vom Fachbegriff des „eliminatorischen Antisemitismusʾ“. Browning hingegen vertritt die These, dass es sich bei den Männern um „ganz normale Männer“ handelte, dessen Taten nicht unbedingt durch vorgeprägten Antisemitismus, sondern eher durch sozialpsychologischen Druck geprägt und begründet waren.
Dieser „Meinungszwist“ der US-amerikanischen Historiker sorgte für erhebliche Medienpräsenz und verschaffte dem Thema der NS-Täterforschung, sowohl in der Wissenschaft als auch in den Medien und der allgemeinen deutschen Öffentlichkeit erheblichem „Aufwind“. Sogar noch heute lassen sich auf YouTube-Diskussionsrunden mit Daniel Goldhagen finden und ansehen. Ein Ende finden wissenschaftliche Debatten daher noch lange nicht. Öffentliche Diskurse gehören in einer kommunikativen Gesellschaft dazu und bringen nicht nur der Gesellschaft, sondern auch der Forschung ständig neue Erkenntnisse und Forschungsfelder. In diesem Fall bedingen sich Gesellschaft und Forschung gegenseitig.
2) Die Wehrmachtsausstellung 1995:
Ein weitere Debatte stellt der Konflikt zur Ausstellung der Wehrmachtsverbrechen im Zweiten Weltkrieg dar. Die Intention der Ausstellungsleiter war es, dem Mythos einer „sauberen“ und unschuldigen Wehrmacht ein Ende zu setzen. Visuell und äußerst drastisch wurden die Taten der Wehrmacht in der Ausstellung dargestellt, allerdings nicht ohne Konsequenzen. Es folgten zahlreiche Reaktionen, mal mehr oder weniger heftig, bis die Debatte sogar den Bundestag erreicht. Hinzu kommen Aufmärsche der Neonazi-Szene und von Gewalt geprägte Auseinandersetzungen mit linken Gegendemonstranten.
Kritik aus der Wissenschaft gab es ebenfalls. Zum einen wurde angemerkt, dass manche Opfer, welche auf den Bildern dargestellt sind, nicht von der Wehrmacht, sondern vom sowjetischen Geheimdienst NKWD ermordet wurden. Zum anderen gab es erhebliche Kritik am Umgang mit den Fotos und ihrer Ausstellung. Ausstellungleiter Jan Philipp Reemtsma lässt die Ausstellung schließlich von einer Kommission fachkundiger Historiker und Historikerinnen überprüfen und sie in einer überarbeiteten Fassung im Jahr 2001 erneut in Berlin eröffnen.
Die Ausstellung legt den Fokus nun mehr auf die schriftliche Darstellung der Verbrechen, wobei die Bilder mehr in den Hintergrund rücken. Zudem sind Fotografien eindeutig mit wichtigen Angaben gekennzeichnet oder es wurde bei Unklarheiten auf diese hingewiesen. Rechtsradikale Proteste sowie vereinzelt Kritikpunkte blieben dennoch fortan bestehen. Die Ausstellung hält sich bis ins Jahr 2004. Diese Debatte verdeutlicht ebenfalls das „Zusammenspiel“ von Wissenschaft/Forschung und Gesellschaft.
Resümee
Der vielschichtige und differenzierte Blick auf Tätergruppen im Nationalsozialismus ist die Grundlage für ein weitgehendes Verständnis. Die Tatsache, dass es hier nicht nur „Schwarz-Weiß“, sondern durchaus häufig „Grauzonen“ gibt, muss ebenfalls im Hinterkopf behalten werden: ein gutes Beispiel hierfür wären „Funktionshäftlinge“. Ein schmaler Grad zwischen Opfer- und Täterschaft, der einerseits ein Ungleichgewicht zwischen ihnen und den restlichen Häftlingen schafft, sie aber nicht aus der Rolle des Häftlings entbindet.
Die Forschung beschäftigt sich seit nunmehr vielen Jahren mit Tätergruppen rund um die Jahre 1933-1945; ein Beispiel für ein noch relativ „junges“ und breites Forschungsfeld ist die „Gauleiter-Forschung“. Zwar stammen schon aus früheren Jahren Forschungsarbeiten zu Gauleitern, doch in den letzten Jahren hat die Forschung fortwährendes Interesse und weitere Forschungslücken aufgetan und zum Teil geschlossen.
Fortführende Hinweise
- „Der Teufel wohnt nebenan“- Doku-Miniserie zu Iwan Demjanjuk (Netflix)
- „Ganz normale Männer – Der „vergessene Holocaust“. Dokumentation zu Christopher Brownings Fachbuch „Ordinary Men“ (Netflix)
- Film „Die Wannseekonferenz“ (2022) (Prime Video)
Fortführende Literatur
Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. Piper Verlag, München 2022. (Original beim Piper Verlag, München 1963)
Browning, Christopher R.: Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen. Rowohlt 1993.
Bajohr, Frank: Neuere Täterforschung, in: Docupedia-Zeitgeschichte. Begriffe, Methoden und Debatten der zeithistorischen Forschung (2013). Online verfügbar unter: https://docupedia.de/zg/Neuere_Taeterforschung
Censebrunn-Benz, Angelika: Handlanger der SS. Die Rolle der Trawniki-Männer im Holocaust. Metropol Verlag 2015.
Goldhagen, Daniel J.: Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust. Siedler Verlag, Berlin 1996.
Hilberg, Raul: Täter, Opfer, Zuschauer. Die Vernichtung der Juden 1933-1945. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 1996.
Janson, Matthias: Hitlers Hiwis. Iwan Demjanjuk und die Trawniki-Männer. KVV konkret, Hamburg 2010.
Kämper, Heidrun: Der Schulddiskurs in der frühen Nachkriegszeit. Ein Beitrag zur Geschichte des sprachlichen Umbruchs nach 1945. Gruyter Verlag, Berlin 2005.
Kompisch, Kathrin: Täterinnen. Frauen im Nationalsozialismus. Böhlau Verlag, Köln/Weimar/Wien 2008.
Rohrkamp, René: „Weltanschaulich gefestigte Kämpfer“. Die Soldaten der Waffen-SS 1933-1945; Organisation, Personal, Sozialstrukturen. Schöningh Verlag, Paderborn 2010.
Tuchel, Johannes: „Heinrich Müller. Reichssicherheitshauptamt. Prototyp des Schreibtischtäters“, in: Die Teilnehmer. Metropol Verlag, Berlin 2024. Online verfügbar unter: https://www.nomos-elibrary.de/de/10.5771/9783748946977-111.pdf






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