Der Verlust eines Kindes – sei es durch Fehlgeburt, Totgeburt, Krankheit, Unfall oder Schwangerschaftsabbruch – hinterlässt eine Wunde, die nicht heilt. Für viele Eltern bleibt die Trauer ein stiller Begleiter, oft ein Leben lang. Doch statt offener Anteilnahme stoßen Betroffene nicht selten auf Schweigen, Floskeln oder Distanz.
Pater Klaus Schäfer, Pallottiner und langjähriger Klinikseelsorger, hat es sich zur Aufgabe gemacht, diesem Schweigen etwas entgegenzusetzen. In Trauerseminaren, Trost-Gottesdiensten und unzähligen Gesprächen schenkt er Betroffenen Raum, um ihre Trauer zu leben – und wieder Hoffnung zu schöpfen. Im Gespräch mit f1rstlife-Autorin Diana Koppelt spricht er über Begegnungen, Rituale, gesellschaftliche Tabus und die Kraft des Trostes.


Herr Pater Schäfer, Sie begleiten seit vielen Jahren Eltern, die ein Kind verloren haben. Wie kam es, dass Sie sich auf diese besondere seelsorgliche Aufgabe eingelassen haben?
Als ich 1999 in Karlsruhe meinen Dienst als Klinikseelsorger begann, sollte ich plötzlich die Frauenklinik übernehmen. Zuerst lehnte ich ab: „Ich bin doch ein Mann und dazu ein Ordensmann – wäre da nicht eine Frau besser geeignet?“ Doch meine Kollegin, die in den Ruhestand ging, ermutigte mich: „Vertrau darauf – viele Frauen sind sehr froh, auch mit einem Mann über ihre Erkrankungen und Sorgen sprechen zu können.“
Also wagte ich den Schritt und begriff schnell: Für Eltern, die sich auf die Geburt ihres Kindes freuen, und es nun tot in den Händen halten, bricht eine Welt zusammen. Mich hat dieses Leid zutiefst berührt. Parallel schrieb ich für meine Dienstprüfung eine Arbeit über den Umgang mit fehlgeborenen Kindern. Daraus entstand eine bundesweite Befragung, unzählige Fragebögen, schließlich meine dreibändige Reihe „Stillgeburt“. Was als Pflicht begann, wurde so eine Berufung – und ist bis heute meine Herzensaufgabe.
Gab es einen ganz bestimmten Moment oder eine Begegnung, die für Sie persönlich zum Schlüsselerlebnis wurde?
Als Schlüsselerlebnis bezeichne ich die rund 75 schriftlichen Antworten auf meine Befragung. Es war für mich erschreckend, zu erfahren, wie das soziale Umfeld – mitunter sogar die eigene Familie – mit dem frühen Tod des Kindes umgegangen ist. Die Situation hat sich seither nicht wesentlich verbessert.

Im Rahmen Ihrer Seelsorge bieten Sie daher Trauerseminare an. Wen sprechen Sie dort konkret an?
Das sind zum einen Eltern, deren Kind schon während der Schwangerschaft verstorben ist. Ihre Trauer ist besonders schwer, weil sie das Kind nie lebend in den Armen halten konnten. Es kommt oft vor, dass ihnen sogar das Recht zu trauern abgesprochen wird. „Da war doch noch gar nichts“, wird ihnen gesagt, aber das stimmt nicht. Schon im Mutterleib ist das Kind da – und bei seiner Geburt ist es neun Monate alt.
Zum anderen lade ich alle Trauernden ein, die einen geliebten Menschen verloren haben. Dabei spielt Religion keine Rolle. Ob Christ, Muslim oder Atheist – entscheidend ist die Liebe zum Verstorbenen. Sie verbindet uns alle, die wir trauern.
Welche Rolle spielt dabei der Austausch der Teilnehmenden untereinander – also das Erleben, nicht allein mit seiner Trauer zu sein?
Die Trauernden erfahren, wie andere Trauernde mit ihrer Trauer umgegangen sind, und was hierbei geholfen hat. Sie können voneinander lernen und sich gegenseitig in ihrer Trauer unterstützen. Wichtig ist dabei, dass kein Wettstreit aufkommt, wer mehr oder weniger trauert. Das vergiftet die Atmosphäre. Ich lege daher großen Wert darauf, dass man darauf blickt, dass alle trauern und wie die Einzelnen mit ihrer Trauer umgehen.

Welche Begegnung hat Sie besonders bewegt?
Am meisten hat mich tatsächlich getroffen, wie unsensibel unsere Gesellschaft gegenüber Trauernden ist. Da waren viele Eltern, die mir erzählten, dass Freunde die Straßenseite wechselten, um ihnen nicht zu begegnen. Statt Mitgefühl, das sie in dieser Situation so sehr gebraucht hätten, hörten sie Sätze wie: „Sei froh, du bist jung, du kannst noch Kinder bekommen.“
Das Schlimmste – und das wird oft übersehen – ist jedoch nicht der Tod des Kindes allein. Es ist die Einsamkeit danach. Die Stille um sie herum. Viele verwaisten Eltern schildern mir regelmäßig, dass sie sich wie Aussätzige fühlen. Ihr Freundeskreis schrumpft, manche Ehen zerbrechen. Das eigentliche Leid – der Tod des Kindes – ist schon schwer genug. Doch das Schweigen und die Kälte der Gesellschaft fügen noch mehr vermeidbares Leid hinzu.
Wie reagieren Sie persönlich auf solche verletzenden Erfahrungen der Eltern – und was geben Sie ihnen in diesen Momenten mit?
Ich reagiere hier auf zweierlei Weisen: Für die Trauernden biete ich Trost-Gottesdienste und Wochenendseminare an, schreibe Bücher für Trauernde und betreibe die Seite www.1trost.de. Für die Gesellschaft halte ich Vorträge über das Trösten und habe mit „Trösten – aber wie?“ eine Anleitung des Tröstens veröffentlicht. Darin sind konkrete Trostworte und Vertröstungen in ihren Wirkungen gegenübergestellt, um den Unterschied zu verstehen.

Inwiefern können Trauerseminare wie Ihre dieses Gefühl der Einsamkeit tatsächlich lindern?
Ich bin davon überzeugt, diverse Rückmeldungen bekomme ich immer wieder von den Teilnehmern dieser Seminare gespiegelt. Mir sind hierbei zwei Botschaften wichtig: Erstens, dass jeder Mensch das Recht hat, um sein Kind oder einen geliebten Menschen zu trauern – ganz gleich, wie alt dieser war oder wie er gestorben ist. Und zweitens, dass die Trauernden auch ein Recht aufs Leben haben. Nicht nur zum Überleben, sondern zum Wachsen und Aufblühen.
Darum gestalte ich die Seminare mit verschiedenen Stationen. Jeder darf selbst wählen, was ihm entspricht. Viele greifen zu Stift und Papier und schreiben Briefe – an das verstorbene Kind, an Gott oder an sich selbst. Am Ende werden die Briefe in einem Gottesdienst verbrannt. So bleiben sie geheim, und doch haben die Trauernden das Gefühl, dass ihre Worte ihr Ziel erreichen.
Sie haben nun beschrieben, dass die Teilnehmenden ihre ganz eigenen Ausdrucksformen finden dürfen. Wie wichtig ist diese Freiheit der Auswahl innerhalb Ihrer Seminare?
Das ist zentral. Gerade weil ich die Stärken, Schwächen und Lebenssituationen der einzelnen Trauernden nicht kenne, halte ich diese Freiheit für entscheidend. Sie ermöglicht, dass jeder genau das aufgreift, was im Moment guttut. Und manchmal entsteht daraus sogar etwas völlig Neues: Manche entdecken beim Schreiben oder Malen eine Ausdrucksform, die sie bisher nie genutzt haben. Das kann ermutigen, auch im eigenen Leben neue Schritte zu wagen.
Besonders in der ersten Zeit nach einem Verlust, wenn man innerlich wie gelähmt ist, kann die Möglichkeit zu wählen wie ein erster kleiner Befreiungsschritt wirken. Mit jeder Entscheidung – dieses Angebot nehme ich an, jenes probiere ich, das andere lasse ich bewusst liegen – gewinnt man ein Stück Kontrolle über das eigene Leben zurück. Genau dieser Prozess stärkt und führt langsam wieder ins eigene Aufblühen.

Wie können Angehörige oder Gemeinden darüber hinaus Betroffene unterstützen, ohne sie zu überfordern?
Ganz einfach – indem sie dabeibleiben. Indem sie immer wieder – auch nach Monaten oder Jahren – die eine Frage stellen: „Wie geht es dir?“ Und dann wirklich zuhören, ohne zu urteilen. Ich erinnere mich an eine Witwe mit einem achtjährigen Sohn. Ihr Mann war kurz vor Weihnachten bei einem Unfall gestorben. Das darauf folgende Fest wurde für sie das schönste – weil eine Familie sie einlud, mitzufeiern, mitzuschweigen, mitzuweinen. So einfach kann Trost sein: nicht allein zu bleiben, das ist das Wichtigste.
Auch Kirchengemeinden können hierbei viel tun. Ein Gottesdienst für Trauernde am Jahresende – wenn die Lücke besonders schmerzlich spürbar ist – ist ein starkes Zeichen. Dort darf auch das fehlgeborene oder abgetriebene Kind seinen Platz haben. Dieser Gottesdienst sollte einen festen Platz im Jahreskalender einer Gemeinde haben und gemeinsam mit den Familien so gestaltet werden, dass jeder sich gemeinsam geborgen fühlt.
Was bedeutet für Sie persönlich Trost schenken?
Für mich bedeutet Trost alles, was die Last leichter macht: Zuhören, Mitfühlen, Anteilnehmen. Es ist kein billiges „Kopf hoch!“, sondern echte Nähe. Ich wünsche mir, dass Trost endlich auch gesellschaftlich und wissenschaftlich ernst genommen wird. Denn Trauer ist kein Tabu – sie ist das natürlichste der Welt, wenn wir einen geliebten Menschen betrauern. Sie ist ein Menschenrecht und sie eint uns alle als Menschheit. Für mich ist deshalb Trost auch eine große Chance: gemeinsam, nicht alleine, das Leben zu sehen.
Ich wünsche mir, dass wir Trauer nicht länger als Krankheit betrachten. Trauer ist ein zutiefst menschliches Gefühl – auch Tiere trauern. Sie gehört zum Leben. Wir dürfen Trauernde nicht einfach an Psychologen oder Gruppen „abschieben“. Jeder von uns kann Trost spenden: als Freund, Nachbar, Kollege, Mitmensch.

Wie unterscheiden Sie zwischen Trost und bloßer Vertröstung – und was macht für Sie den entscheidenden Unterschied aus?
Trost und Vertröstung definiere ich so: Trost ist alles, was den Trauernden emotional guttut, was ihnen die Trauer und den Schmerz zu ertragen erleichtert. Das können Worte sein, aber auch gemeinsames Schweigen oder einfach Zuhören. Das kann eine Berührung oder Umarmung sein, aber auch ein Gutschein für ein Essen mit einem lieben Menschen. Vertröstung ist alles, was die Trauernden emotional nicht erreicht oder gar verletzt. Das ist zwar gut gemeint, wirkt aber nicht oder verletzt gar.
Warum ist es Ihnen wichtig, die Frauen nach einer Abtreibung so eng einzubeziehen?
Weil auch sie ein Kind verloren haben – und viele darunter still und einsam leiden. Ich habe rund zehn Jahre lang Frauen in einem Internetforum begleitet, die nach einer Abtreibung Hilfe suchten. Ihre Aussagen waren oft erschütternd: „Ich musste mich zwischen zwei falschen Entscheidungen entscheiden.“ Oder: „Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich nicht das Kind abgetrieben, sondern die Umstände.“
Für mich ist klar: Auch diese Frauen haben das Recht, zu trauern. Jesus wurde von seinen Zeitgenossen „Freund der Zöllner und Sünder“ genannt. Er hat niemanden verurteilt – nicht einmal die Ehebrecherin, die gesteinigt werden sollte. Er hat Menschen gesehen und ihnen Würde zurückgegeben. Genau das möchte ich auch tun: nicht urteilen, sondern Raum für Trauer schenken.
Sie selbst begleiten unzählige Trauernde. Wie schützen Sie sich ganz persönlich vor Überlastung?
Wer viel Tod begleitet, braucht auch viel Leben. Das habe ich gelernt. Für mich heißt das: auf meine eigenen Wünsche achten und sie bewusst leben. Das kann ein Spaziergang sein, ein Treffen mit Freunden oder eine Aufgabe, die Freude schenkt. Nur wer selbst lebendig bleibt, kann andere gut begleiten. Und nur wer das Leben feiert, dafür dankbar ist und es wertschätzt, kann auch im Umgang mit Tod und Trauer ein zuverlässiger Begleiter sein.

Welche Hoffnungen haben Sie für den gesellschaftlichen Umgang mit Trauer in den nächsten Jahren – was sollte sich dringend ändern?
Ein großer Schritt wäre, wenn Trauernde von ihrem sozialen Umfeld keine Zurückweisung erfahren. „Lass mich damit in Ruhe“, „Gehe zu einem Psychologen“ oder – insbesondere nach Abtreibung – „Du bist selbst daran schuld“ sind erfahrene Reaktionen. Zuweilen wird sogar die Straßenseite gewechselt, um Trauernden nicht begegnen zu müssen. Ein zweiter großer Schritt wäre, wenn man Trauernden zuhört, ihnen Verständnis und Anteilnahme entgegenbringt.
Ein dritter Schritt wäre die Vereinheitlichung des deutschen Bestattungsrechts. Besonders im Umgang mit den während der Schwangerschaft verstorbenen Kindern weisen die Bestattungsgesetze der 16 Bundesländer große Unterschiede auf. Ein vierter wäre, dass die Wissenschaft neben der Trauerforschung auch eine Trostforschung etabliert, denn Trauernde brauchen Trost.
Wenn Sie einem trauernden Menschen nur einen einzigen Gedanken mitgeben dürften – welcher wäre das?
Achten Sie täglich auf Ihre Wünsche – und versuchen Sie, wenigstens einen davon umzusetzen. Auch das kleinste erfüllte Bedürfnis schenkt Kraft und öffnet den Weg zurück ins Leben. Schon vor 2.500 Jahren rief der Prophet Jesaja: „Tröstet, tröstet mein Volk!“ Gott hat uns dieses eine Leben geschenkt, damit wir es mit Kraft, Liebe und Zuversicht gestalten können. Tun wir das auch in Zeiten von Trauer gemeinsam und setzen wir damit ein Zeichen.
Weitere Informationen zum Aufbau eines Trost-Gottesdienstes gibt Pater Klaus Schäfer auf folgender Webseite: https://www.schaefer-sac.de/wiki/index.php?title=TG/Aufbau_der_Liturgie
Unter dem Stichwort „Bestattungsrecht“ findet ihr auf der Seite der Universität Regensburg darüber hinaus eine Synopse von Pater Schäfer zum deutschen Bestattungsrecht aller 16 Bundesländer: https://epub.uni-regensburg.de/






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