Wenn es viele Möglichkeiten gibt, gewinnt man schwerlich einen Überblick. Die Entscheidungen fallen schwer. Aber was muss man überhaupt?

Ich kann alles, also muss ich auch alles machen. Studium ist nicht mehr gleich Studium und wer nur studiert, macht auch irgendwie zu wenig. Das scheint eine implizite Forderung an heutige Studierende zu sein. Ein Studium zu schaffen, das auf theoretischer Wissensansammlung beruht, ist nicht mehr der Kernsinn und bedarf der Ergänzung. Durch Globalisierung und Vernetzung sind unzählige Möglichkeiten entstanden, Dinge zu tun, die toll klingen und die einen dauerhaft beschäftigen. Auszeiten nehmen, einfach mal nichts tun und um die Welt reisen, vielleicht für den Unterhalt ein bisschen arbeiten. Freiwilligenprojekte unterstützen, im In- und Ausland und über diverse Organisationen. Sich ehrenamtlich engagieren, ob über lokale Vereine oder durch Nachhilfe-Unterricht via Skype. Außergewöhnliche Sprachen erlernen, ob man sie mal braucht oder nicht. Auf Bauernhöfen rund um die Welt für Kost und Logis aushelfen, um ein bisschen von dem Leben kennenzulernen, das Globalisierung und Effizienzwirtschaft verdrängen. Neben all den mehr oder weniger freizeitlichen Aktivitäten steht ein Studium mit Bestnoten trotzdem weit oben auf der To-Do-Liste, denn ansonsten ist man auf dem Arbeitsmarkt später nicht competitive. Und bitte, ein reges Sozialleben darf nicht fehlen, genauso wenig wie sportliche Aktivitäten. Am besten kennt man noch stets die neuesten Folgen der einschlägigen Lieblingsserien.
Druck erzeugt Versagensängste
Die Möglichkeiten, sich zu beschäftigen, ob sinnvoll oder nicht, sind schier unendlich. Das bedeutet zwar, dass uns die Verfügbarkeit tausender Projekte den Raum zur Selbstentfaltung bis zum kleinsten Detail gibt, bringt aber doch auch ein ordentliches Maß Orientierungslosigkeit. Woher soll ich denn wissen, was ich eigentlich will, wenn ich niemals in der Lage sein werde, diese unendliche Vielfalt der Möglichkeiten zu durchschauen? Wo soll ich denn anfangen, wenn ich nicht weiß, ob vielleicht nicht noch etwas kommt, das viel besser zu mir passt, mein Profil schärft und mich dabei hoffentlich noch glücklich macht? Der Druck der Möglichkeiten, der so entsteht, wird außerdem noch begleitet von einem anderen (vermeintlichen) Druck, bitte alles auf einmal und möglichst schnell zu machen: Wenn ich nicht in Regelstudienzeit fertig werde, will mich mein Traumarbeitgeber nicht. Wenn ich nicht vorweisen kann, in meiner Freizeit ehrenamtlich aktiv zu sein und die Gesellschaft mitzugestalten, wirke ich nicht wie ein teamfähiger Mitarbeiter. Wenn ich mal eine Zeit lang nichts bestimmtes tue, und eben genau die Vielfalt meiner Optionen auslote, ist das vielleicht eine weniger produktive Phase in meinem Leben. Man könnte meinen, es entsteht eine Lücke. Und hier schließt sich der Kreis des Drucks, denn eine Lücke im Lebenslauf sieht ja immer schlecht aus.
Leben ohne Lücke
Die Lücke im Lebenslauf ist ein altbekannter Schatten, der viele jagt, die noch nicht fertig sind mit ihrer Entscheidungsfindung. Aber wie geht das eigentlich, eine Lücke im Lebenslauf? Das hieße ja, in dieser Zeit nicht gelebt zu haben, ein schwarzes Loch im Fluss der Aktivitäten. Aber ein Lebenslauf soll doch meinen individuellen Werdegang skizzieren, soll zeigen, wie ich zu der geworden bin, die um die Gunst der Lebenslauf-Lesenden wirbt. Es geht doch vorrangig darum, wie ich mein Leben fülle, und nicht darum, durchgängig die genormte Konzepte von Studium oder Arbeit vorweisen zu können. Es wäre weit gefehlt und nur ein Teil der Wahrheit, zu behaupten, es seien einzig diese Konzepte, die uns zu den Menschen machen, die wir sind. Inhalte und Menschen, die den Charakter, die Bildung und die Einstellung prägen, hat man schließlich auch in weniger konventionellen Lebensphasen. Unter der Prämisse, dass eine Lebenslücke nicht existiert, geht es doch eher darum, für sich festzustellen, welche Arten der Zeitvertreibungen einen persönlich weiterbringen. Und dazu bedarf es des Ausprobierens einiger der vielen Möglichkeiten, die sich anbieten, oder vielleicht auch weniger anbieten und deswegen erst gefunden werden müssen.
Unser eigenes Wohlgefühl mit unseren Lebensphasen sollte im Vordergrund stehen, denn wenn wir Dinge nur tun, weil aus gesellschaftlicher Konvention und Attitüde danach verlangt wird, tun wir sie nicht mit Leidenschaft. Möglicherweise tun wir sie dann auch nicht gut, und der Qualifizierungseffekt, den eine Lebenslauf-Phase idealerweise bringt, ist vermindert. Zu behaupten, er sei nicht vorhanden, wäre allerdings genauso verfehlt wie der uneingeschränkte Verlass auf genormte Konzepte: wenn ich etwas nicht gut mache, lerne ich eben, dass diese Möglichkeit keine für mich ist. Warum auch sollten wir Zeit mit Dingen verbringen, die uns keinen Spaß machen, wenn uns eine endlose Welt der Möglichkeiten zur Verfügung steht? Wir können schließlich alles machen. Und damit können wir einen ganzen Lebenslauf füllen.






Das krankhafte Aufschieben: erst Karriere machen, dann leben?
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