Man könnte meinen, die Aussage, früher sei doch alles besser gewesen, stammt in der Regel von alten Menschen, die wahrscheinlich nur frustriert sind, weil sie nicht mit dem Internet zurechtkommen. Aber auch viele junge Menschen sehnen sich nach einem idyllischen, stressfreieren Leben, und manche durchaus berechtigte Kritik an der heutigen Gesellschaft erweckt den Eindruck, früher sei alles besser gewesen. Jede zweite Ehe wird geschieden, die Deutschen bekommen immer weniger Kinder… Kann man schade finden; auch mir wird jedes Mal schlecht, wenn ich so ein Unwort wie „Lebensabschnittsgefährte“ höre. Nur: War früher wirklich alles besser? Oder wenigstens einfacher?
Wohl kaum. Ja, früher wurden mehr Kinder geboren. Und einige davon sind dann sehr früh gestorben, überhaupt war die Lebenserwartung geringer und Ernährung und medizinische Versorgung garantiert schlechter, als es jetzt in den Industriestaaten der Fall ist. Ja, früher bekannten sich mehr Leute in Mitteleuropa zu einer christlichen Konfession. Aber wer heutzutage regelmäßig ein Gotteshaus aufsucht, tut es aus Überzeugung, gerade junge Menschen sogar mit einer ansteckenden Begeisterung. Und nicht nur „weil man das so tut“. Und den technischen Fortschritt möchten doch wohl die wenigsten missen, auch wenn eine Kindheit in den 1990er Jahren, ohne Smartphone und Terminkalender, zweifellos sehr schön war. Vielleicht verbringen wir mehr Zeit vor und mit elektrischen Gerätschaften, als uns gut tut, aber in manchen Fällen erleichtert uns das Internet ja auch das Leben. Es kommt schließlich vor allem darauf an, wie man mit Dingen und Situationen umgeht.
Gescheiterte Partnerschaften oder Gewalt innerhalb von Familien gab es immer. Früher wurde dann der Schein nach außen gewahrt, manche Menschen führten ein Doppelleben – und teilweise sind solche Strategien immer noch verbreitet. Aber ist damit irgendjemandem geholfen? Oder sind wir nicht eher froh, dass der gesellschaftliche Druck, einen ungesunden Status quo auf Biegen und Brechen aufrechtzuerhalten, geringer wird? Wer in einer demokratischen, mehr oder weniger aufgeklärten Gesellschaft lebt, ist in erster Linie eines: frei. Eine Vielzahl an Möglichkeiten, gesteigerte Mobilität und die Auflösung traditioneller Geschlechterbilder machen es allerdings schwierig, sich für einen Beruf, einen dauerhaften Wohnort (neuerdings genannt Lebensmittelpunkt), den einen richtigen Partner zu entscheiden. Und der individuell unterschiedlich stark ausgeprägte Wunsch, früher oder später irgendwo anzukommen, vorzugsweise in einem möglichst sicheren Hafen, ist natürlich.
Aber Wahl ist nicht zwingend gleichbedeutend mit Qual. Vieles ist eine Herausforderung (und das war früher bestimmt nicht anders), darin sollte man aber nicht automatisch ein Problem sehen – eher eine Chance: Wir haben das Glück, uns frei entscheiden zu können, wir können das kleine Dorf verlassen und in die große Stadt ziehen. Oder umgekehrt. Ein fremdbestimmtes Leben zu führen, ist nur scheinbar leichter – weil man dann meint, anderen die Schuld an eigenen Missgeschicken geben zu können. Die Devise lautet, Verantwortung zu übernehmen. Denn, frei nach Julia Engelmann: Eines Tages, Baby, da werden wir alt sein – und dann haben wir immer noch genug Zeit, um darüber zu meckern, wie schlecht die Welt doch geworden ist. Oder um uns einfach nur darüber zu freuen, dass wir aus unserem Leben das Beste gemacht haben.
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