Opportunismus als Antwort auf Relativismus: Im 21. Jahrhundert ist Wahrheit ein Begriff, der neu belegt werden muss. In einer turbulenten Welt der Vielfalt können altbekannte Vorstellungen davon nicht mehr bestehen. Ist es Zeit für ein neues Verständnis von Wahrheit?

Wahrheit – Was bedeutet das?
Was ist Wahrheit? Dem Johannesevangelium zufolge stellte Pilatus Jesus diese Frage bereits vor 2.000 Jahren. Wie es scheint, ist sie heutzutage genauso aktuell wie damals. Wer kann behaupten, die Wahrheit zu kennen? Gibt es überhaupt so etwas wie Wahrheit? Die gängige Antwort darauf ist dieser Tage: „Du hast deine Wahrheit – Ich hab meine Wahrheit.“ Es geht nicht mehr nur darum, andere Wahrheitsansprüche zu tolerieren, sprich: zu ertragen, sondern sie als gleichwertig stehen zu lassen. Wahrheit ist folglich immer personen- und kulturgebunden, man könnte sagen: individuell. Diese Einstellung scheint zumindest in einer globalisierten Welt, in der das Individuum mit tausenden unterschiedlichen Weltanschauungen konfrontiert ist – und vor allen Dingen mit deren Vertretern – die vernünftigste Weise zu sein klarzukommen. Wir einigen uns darauf, dass jeder gleichermaßen Recht hat, solange seine Ansichten nicht so radikal sind, dass sie jemandem schaden. Die Schwierigkeit hierin ist nun die Frage nach der Auswahl der individuellen Wahrheit, wozu ich in diesem Artikel eine Empfehlung aussprechen möchte: Opportunismus.
Die Kunst der Anpassung als moderne Tugend
Opportunismus ist die Kunst der Anpassung und der Flexibilität in Wahrheitsfragen. Wenn Wahrheit etwas Individuelles ist, steht es auch einem jedem zu, sie sich selber auszusuchen. Warum also nicht die vorteilhafteste Ansicht auswählen? Aus vergangenen Zeitaltern ist der Begriff Opportunismus sehr schlecht behaftet. Dies hängt allerdings mit einem veralteten Begriff von Überzeugung zusammen. Für die Menschen vergangener Jahrhunderte und oftmals auch noch für diejenigen anderer Kulturgebiete ist Überzeugung immer das Gefäß gewesen, in dem man Wahrheit aufbewahrt. Da wir uns aber nun von einem statischen Wahrheitsbegriff entfernt haben, ist es auch nur konsequent, sich von einem zu festen Begriff von Überzeugung zu verabschieden. Der Mensch der Zukunft sollte keine Überzeugung kennen. Er sollte bereit sein, jedem alles zu sein. Die Befreiung von einem statischen Wahrheitsbegriff eröffnet ihm alle Möglichkeiten, die er sich momentan noch durch sein zurückgebliebenes Verhalten verbaut.
Wahrheitsindividualismus in der praktischen Anwendung
Eine Mustersituation sind etwa Vorstellungsgespräche. Da der moderne Mensch weiß, dass er der Herr über seine Wahrheit ist, kann er seinem zukünftigen Arbeitsgeber jederzeit alles sagen, was dieser hören möchte, ohne Rücksicht auf konventionelle Realitätsverständnisse. Der Journalist der Zukunft kann, völlig ohne falsche Hemmungen, endlich seiner Leserschaft das sagen, was diese auch hören möchte, ohne sich schlecht fühlen zu müssen. Der Politiker der Zukunft kann dem Volk alle Versprechen geben, solange er sie nur in dem, was seine Wahrheit ist, erfüllt und die muss sich ja nicht mit der Wahrheit seiner Wähler decken.
Meine Wahrheit gehört mir
Ich möchte Mut machen zu einem befreiten Wahrheitsverständnis. Niemand sollte gezwungen sein, nach irgendwelchen fremden Maßstäben beurteilt zu werden, solange sie nicht seiner Wahrheit entsprechen. Vor allem die Schüler und Studenten der kommenden Tage dürfen nicht etwa nach der beschränkten Wahrnehmung eines anderen Individuums, wie zum Beispiel des Lehrers, beurteilt werden. Auf ihren Zeugnissen sollte das stehen, was sie auch für wahr halten und nicht andersherum. Die Wahrheitsdiktatur hat sich in den letzten Jahrhunderten immer mehr ihrem Ende genähert. Es ist nun Zeit, auch zur praktischen Umsetzung dieser wichtigen Erkenntnis zu gelangen. Niemand sollte mehr irgendjemandem irgendwelche Wahrheiten diktieren können. Wir müssen dahin kommen, dass der moderne Mensch den Gründer der christlichen Religion zitieren können muss, wenn dieser sagt: „Ich bin die Wahrheit“.
Man kann auch Nihilismus dazu sagen.