Lange Zeit war das Wahlrecht vom Mehrheitswahlrecht dominiert, also der Wahl einzelner Personen. Die Wahl von Listen, die von Parteien aufgestellt werden, ist hingegen eine relativ neue Erfindung, die in Deutschland zum ersten Mal in der Weimarer Republik Einzug fand. Die Bundesrepublik übernahm schließlich das Verhältniswahlrecht, baute es allerdings um und fügte ihm ein Element des Mehrheitswahlrechts wieder hinzu. Heraus kam das sogenannte personalisierte Verhältniswahlrecht. Das klingt nun zunächst kompliziert, es lohnt sich aber, dieses näher zu betrachten, da es der Grund ist, warum wir den Bundestag mit zwei Stimmen wählen.
Wählen mit zwei Stimmen
Der Wahlzettel kennt nämlich zwei Stimmen: die sog. Erststimme (auch: Wahlkreisstimme) und die Zweitstimme. Schon mit dem Wahlzettel wird einem dabei eine gewisse Entschlüsselungshilfe mit dem auf den Weg gegeben. Die Erststimme sei „für die Wahl eines/einer Wahlkreisabgeordneten“. Zur Wahl stehen hier also einzelne Personen, die man für den jeweiligen Wahlkreis direkt als Abgeordnete – nach dem relativen Mehrheitsprinzip – wählen kann. Das ist das mehrheitswahlrechtliche Element der Wahl sowie der personalisierte Teil unseres Wahlsystems. Mit der Zweitstimme wird hingegen eine starre Parteiliste (auf Landesebene aufgestellt) gewählt. Die Wahl erfolgt hier über eine Verhältniswahl, das heißt, eine Partei, die beispielsweise 25 Prozent der Stimmen gewinnt, erhält auch 25 Prozent der Parlamentssitze. Dies stellt den verhältniswahlrechtlichen Teil der Wahl dar. Die Zweitstimme ist insgesamt auch die Basis für die Mandatsvergabe insgesamt.
Wie geht das nun vonstatten?
Ausgehend von den Zweitstimmen findet nun ein doppeltes Verrechnungsverfahren statt. In einem ersten Schritt werden dafür auf Basis der Zweitstimmen die Mandate berechnet, die einer Partei für das gesamte Bundesgebiet zustehen. In einem zweiten Schritt wird dann die Anzahl der Mandate berechnet, die jeder Partei auf Länderebene zustehen. In einem dritten und letzten Schritt werden schließlich die gewonnenen Direktmandate auf das Zweitstimmenergebnis angerechnet und die jeweiligen Landeslisten abgearbeitet.
Was sind nun die berühmten Überhangmandate?
„(1) Der Deutsche Bundestag besteht (…) aus 598 Abgeordneten.“ So Paragraph 1 I des Bundeswahlgesetzes. Diese setzen sich zusammen aus 299 direkten Mandaten über die Erststimme und 299 über die Landeslisten. Dennoch: In seiner Geschichte hatte der Bundestag meist weit mehr Abgeordnete. So besteht der aktuelle Bundestag aus stolzen 620 Mitgliedern, also ganzen 22 Abgeordneten mehr als das Gesetz vorsieht. Wie kann das sein? Der Grund hierfür sind die sog. Überhangmandate, die in letzter Zeit eine gewisse Bekanntheit erlangt haben. Dabei sah es nach der Bundestagswahl 1965 lange Zeit so aus, als seien sie Vergangenheit, ja Schnee von gestern.
Erst 1983 traten sie in geringer Zahl wieder bei Bundestagswahlen auf, bis dann nach der Wiedervereinigung die Zahlen nach oben schnellten, nachdem vor allem in den neuen Bundesländern viele Direktmandate – bei geringen Zweistimmenergebnissen – gewonnen wurden. Überhangmandate – also Mandate, die über die vorgesehene Zahl hinausgehen – entstehen nämlich, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate gewinnt, als ihr über den Zweitstimmenanteil eigentlich zustehen. Nachdem in den letzten Jahren die Zahlen so hoch waren, dass nun auch Regierungsmehrheiten durch Überhangmandate entstehen können, wurden sie im letzten Jahr auch Gegenstand eines Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht, woraufhin sie nun mit Ausgleichsmandaten für die anderen Parteien versehen werden müssen. Ein Ausgleich, der selbstverständlich zu einer weiteren Vergrößerung des Bundestags um – nach vorläufigen Schätzungen – 30 bis 50 Abgeordneten führen wird.
Nun auch noch taktisch wählen…
Mit ein Grund, warum es überhaupt zu Überhangmandaten kommt, ist das sog. taktische oder auch strategische Wählen. Das funktioniert in zwei Richtungen: Für Wähler einer kleineren Partei macht es häufig keinen Sinn, ihre Erststimme auf den Kandidaten ihrer präferierten Partei zu setzen. Zu gering ist dessen Chance von der Mehrheit gewählt zu werden. Daher bietet es sich für die Wähler an, das mögliche Koalitionsverhalten ihrer Partei zu antizipieren und die Erststimme dem Kandidaten des möglichen, größeren Koalitionspartners zu geben.
Auf der anderen Seite wollen Wähler einer größeren Partei häufig, dass es für die entsprechende Partei für eine Koalition mit einem kleineren Koalitionspartner reicht. Sie geben daher ihre Erststimme zwar dem Kandidaten ihrer Partei, die Zweitstimme dafür aber dem möglichen, kleineren Koalitionspartner. Wählten 1990 noch lediglich zehn Prozent der Wähler taktisch, sind es 2005 schon ganze 24 Prozent gewesen. Taktisch wählen liegt also im Trend, auch wenn sich die Wähler bewusst sein müssen: taktisch zu wählen kann auch schiefgehen. So ging die niedersächsische Landtagswahl 2013 wohl deshalb für die CDU verloren, weil zu viele ihrer eigenen Anhänger taktisch – und damit mit Zweitstimme die FDP wählten –, so dass am Ende beide Parteien aus der Regierung flogen.
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