Noch bis zum deutschen Vormärz war es mit demokratischen Wahlen auf der Reichsebene nicht weit her. Es gab zwar bereits Ständevertretungen, doch vertraten sich die Stände dort selbst – und das ohne überhaupt gewählt zu werden. Das änderte sich erst allmählich, vor allem später unter dem Einfluss der Französischen Revolution. Erst im Kleinen, mit der sog. Steinschen Gemeindereform, die ein halbwegs demokratisches Wahlrecht für die Gemeinderäte einführte. Später wurde dieses Wahlrecht ab 1815 auf Länderebene und 1848 schließlich auch auf die Reichsebene übertragen. Auf Länderebene beruhte das Wahlsystem überwiegend auf Zweikammersystemen. So war die erste Kammer zwar immer noch nur mit dem Adel und ernannten Mitgliedern besetzt, handelte es sich bei der zweiten Kammer aber nun um eine reine Wahlkammer mit Mehrheitswahlrecht (Personenwahl). Gewählt wurde die Kammer zwar in verschiedenen Gruppen mit unterschiedlichen Wahlanforderungen, so dass die Wahlbevölkerung noch nicht einheitlich war, aber im Parlament waren dann alle Stimmen der Abgeordneten gleich.
Eine allgemeine und gleiche Wahl?
Auch wenn jede Gruppe ihre ganz eigenen Bestimmungen zur Wahl hatte; eine allgemeine und gleiche Wahl war bereits allen gemein. Gleichwohl mit Einschränkungen: Zunächst waren von der allgemeinen Wahl nur die Männer erfasst. Das sollte sich auch bis 1918 in Deutschland nicht ändern. Sodann gab es zusätzlich zu diesen Einschränkungen noch zwei weitere Beschränkungen, die die Wahlberechtigungen in den Ländern auf Tiefstwerte drückten. Die schärfste Beschränkung war dabei sicher das Wahlalter. Um wählen zu dürfen, musste man 25 Jahre alt sein, um gewählt zu werden gar 30. Und das in einer Gesellschaft, in der der Altersschnitt bei unter 30 Jahren lag. Somit konnten im Durchschnitt lediglich rund 20 Prozent der Bevölkerung überhaupt an die Wahlurne treten. Hinzu kamen verschiedene Zensusanforderungen, die je nach Land und Personengruppe variierten. Dabei folgte man einem von den Engländern im 17. Jahrhundert entwickelten Gedanken, wonach nur Personen, die Eigentum besitzen auch Interesse am Staatswesen haben können. In Deutschland trat noch hinzu, dass der Kernarbeitsbereich der Parlamente die Steuerbewilligung war und nur Personen Steuern bewilligen sollten, die davon direkt betroffen waren. Ein Zeitalter einer umfassenden Wahl war dies also noch nicht. So durften beispielsweise damals in Bayern lediglich 0.57 Prozent überhaupt wählen und in Württemberg – und das ist auch schon der höchste Wert auf Reichsebene – auch nur etwa maximal 20 Prozent.
Das allgemeine und gleiche Wahlrecht kommt auch auf die Reichsebene
Als auf Länderebene immer mehr liberale Regierungen eingesetzt wurden, zog nun auch auf Reichsebene ein modernes Wahlrecht ein. Hier gab es bisher nur eine sog. Bundesversammlung als Vertretung der souveränen Landesmonarchen, die nun aber eben von konservativ zu liberal schwenkten. Diese erließen nun zur Revolution von 1848 ein weitgehend allgemeines, gleiches, direktes, freies und geheimes (Männer-)Wahlrecht – ja ein durchweg modernes Wahlrecht – zu den Wahlen der Nationalversammlung. Nur noch eine wirklich Beschränkung war dabei vorgesehen: das Kriterium der Selbständigkeit. Das wurde aber dahingegen ausgelegt, dass nur Fürsorgeempfänger effektiv ausgeschlossen waren. Das nun erlassene Wahlrecht sollte fortan auch in die Paulskirchenverfassung von 1849 und die Reichsverfassung von 1871 fast identisch übernommen werden.
Ein modernes Wahlrecht überall?
Einzig Preußen verweigerte sich einem modernen Wahlrecht bis 1918 und beließ es beim berühmten preußischen Drei-Klassen-Wahlrecht. Das war zwar allgemein im damaligen Sinne, so dass kein Mann von der Wahl ausgeschlossen war – gleich war es aber nicht. Vielmehr wurden die Bürger eines Wahlbezirks nach ihrer Steuerleistung in drei Klassen aufgeteilt, die dann – ganz unabhängig davon, wie viele Personen eine Klasse umfasste – zwei Wahlmänner entsandten. Das führte teils zu so kuriosen Einteilungen, dass der Reichskanzler bei den Wahlen 1903 in der dritten Klasse landete und in der ersten Klasse allein ein Wurstfabrikant verweilte und allein seine zwei Wahlmänner entsandte. Das paradoxe an der Sache war nun, dass ausgerechnet dieses ungleiche Wahlrecht, nicht (wie geplant) die Konservativen stärkte – sondern die Liberalen. Von Wahl zu Wahl wurden diese stärker, da das Bürgertum liberal eingestellt war und gleichsam das Geld auch bei den Liberalen lag und nicht bei den verarmten Konservativen. Auch waren sie politisch interessierter, gingen aktiver zur Wahl und schlossen sich politisch zusammen, um so wirkungsvoller zu agieren. Ausgerechnet also unter dem preußischen Drei-Klassen-Wahlrecht konnten die Liberalen reüssieren.
Zurück auf die Reichsebene – Misere für die Sozialdemokraten
Auf der Reichsebene mussten sich zur gleichen Zeit die Sozialdemokraten mit einem ganz anderen Problem des Wahlrechts herumschlagen: den Wahlkreisen. In einheitlicher Größe angelegt, umfassten diese auf dem Land (naturgemäß) relativ wenige Personen, in den Städten dafür umso mehr. Und genau das war das Problem für die Sozialdemokraten: Ihre Anhänger waren nicht auf dem Land zu finden, sondern alle zusammen in den Städten. Im Zuge der Industrialisierung und Verstädterung verschlimmerte sich das noch, so dass die Sozialdemokraten auf völlig überfüllten Wahlkreisen weilten. Hinzu kam, dass es wegen des absoluten Mehrheitswahlrechts, häufig eines zweiten Wahlganges bedurfte und sich alle anderen Parteien dabei gegen die Sozialdemokraten verbündeten. So waren sie im Reichstag stark unterrepräsentiert und bekämpften das Wahlrecht außerhalb des Reichstags vehement.
Ein letzter Schritt – Weimar: Das Verhältniswahlrecht kommt
In der Weimarer Republik wurde schließlich das Verhältniswahlrecht in einer radikalen Variante eingeführt. Wurden mit dem bisher geltenden Mehrheitswahlrecht einzelne Personen gewählt, sollten von nun an von den Parteien aufgestellte Listen gewählt werden. Dabei ging ein Abgeordneter auf 60.000 Stimmen, weshalb das Parlament mit seiner Wahlbeteiligung und der demographischen Entwicklung stetig wuchs. Waren es zu Beginn etwa 500 Abgeordnete, so waren es 1933 schon ganze 650. Befürworter und insgesamt sehr zufrieden mit dem neuen Wahlrecht waren indes die Sozialdemokraten, die sich wie schon gesehen mit dem (absoluten) Mehrheitswahlrecht nicht anfreunden konnten.
Festzuhalten bleibt…
Was für ein Wahlrecht in der Bundesrepublik herrscht, welche Probleme und Besonderheiten es dabei gibt, soll Gegenstand des zweiten Teils sein. Festzuhalten bleibt, dass Deutschland auf Reichsebene relativ früh im internationalen Vergleich ein allgemeines und gleiches Wahlrecht erhielt. Das parlamentarische Regierungssystem konnte sich dagegen erst später als in anderen Ländern durchsetzen. Für die demokratische Entwicklung war das problematisch, denn so hatte man zwar ein demokratisches Parlament – zu sagen hatte es aber nichts.
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