Er steigt in alte Gebäude ein, riskiert sein Leben und freut sich über Schimmel: auf Tour mit einem Ruinenfotografen. Oder wie er sich selbst nennt: Urban Explorer. Eine Reportage.

„Wisst ihr, ob die Treppe hält?“, brüllt Andreas Schwarzmann nach unten. Mehrere Explorer tummeln sich in dem mehrstöckigen Gebäude. Von einem schallt ihm ein „Im Zweifelsfall probieren“ zurück. Schwarzmann stößt einen unsicheren Lacher aus. Dann wagt er den ersten Schritt auf die Stufe. Sofort krallt er sich an dem Geländer fest. 15 Meter Höhe – zwei Stockwerke – liegen unter ihm. Stativ und Kamera sind zu wertvoll, die hat er unten stehen lassen. Zwei betende Hände, darunter der Schriftzug „pray“, prangen auf seinem T-Shirt. Seine Stirn samt Narbe, eine Faustbreit über dem rechten Auge, verkrampft sich. Mit angespannter Miene setzt er vorsichtig einen Fuß vor den anderen. So, als wolle er die Stufen gar nicht berühren. Die hölzerne 50er-Jahre-Treppe knarzt leicht. Der Wind haucht dem alten Gemäuer Leben ein. Er trägt Gespräche von der Pizzeria auf der gegenüberliegenden Straßenseite in die Villa herein. Und vertreibt für einen Moment den modrigen Geruch. Das lässt den 28-Jährigen unbeeindruckt: Behutsam arbeitet er sich nach oben vor. Stufe für Stufe in den dritten Stock von „Dr. Anna L.“
So wurde einer der bekanntesten „lost places“ Deutschlands von Urbexern getauft. Es ist die ehemalige Urologie-Praxis von Dr. Kraft und seinem Sohn. Sie steht mitten in der hessischen Kleinstadt Bad Wildungen. Wie diese Villa sind viele der „places“ einsturzgefährdet: Boden und Balken hängen durch. Bisher hat Schwarzmann sich noch nicht verletzt. Ein paar Mal eingekracht ist der Bayreuther aber schon. Zum Beispiel in einem Kino: „Plötzlich stand ich einen Meter tiefer“, grinst er. Und wird dann fast etwas ernst: „Wemmas so sehn’ will, dann riskier’ ma’ scho’ unser Leben“, bemerkt er.
Warum „Dr. Anna L.“ als Name herhalten musste, weiß keiner so genau. Verschiedene Mythen ranken sich um das Haus. Die Witwe des Arztes soll bis zu ihrer Heimeinweisung in der Villa gelebt haben. Die Praxisräume soll sie an andere Ärzte vermietet haben. Seit 2006 steht das Haus aber leer. Wieso es so abrupt verlassen wurde und sich offenbar keiner mehr darum gekümmert hat? Dieses Rätsel wird wohl nie gelöst.
Als Schwarzmann 2014 das erste Mal in der Villa war, sah sie noch aus wie vor fünf Minuten verlassen: Das Bett war gemacht, die Bücher, Medikamente und Spritzen aufgeräumt. Alles an seinem Platz. Jetzt ist hier alles „so am Arsch“, sagt Schwarzmann abfällig. Unheimlich ist es immer noch: Spritzenhülsen liegen neben Kontoauszügen und Kuranordnungen von Dr. Kraft auf dem staubigen Boden verstreut.
„Nix mehr da“ – enttäuscht kommt Schwarzmann die Treppe aus dem dritten Stock herunter. Nicht weniger vorsichtig, aber bedeutend schneller. Seine silberne Halskette blitzt auf. Rechts am Hals hat er ein verschnörkeltes „S“ tätowiert. Eigentlich war er oben auf der Suche nach den Einmachgläsern mit Lungen und anderen Organen. Die hat er bei seinem ersten Besuch noch fotografieren können. Nun kann er sie nicht mehr finden. Selbst im dritten Stock nicht.
Dass der Hobbyfotograf beim Einsteigen in die Gebäude – heute wie damals – Hausfriedensbruch begeht, ist ihm „egal“. Ihn reize der „morbide Charme“ der „places“ und die Möglichkeit, mit Fotos ihre Vergänglichkeit zu konservieren. Damit ist er nicht alleine: Mittlerweile ist das Gästebuch von „Dr. Anna L.“ fast auf jeder Seite beschrieben. Die Villa „ist die Hure des Urbexens, weil einfach schon jeder drinnen war“, lacht Schwarzmann laut. Nach und nach wurde der „place“ immer bekannter und zog Randalierer an, die ihrer Zerstörungswut freien Lauf ließen. So geschieht es mit vielen der „lost places“, deren Adressen öffentlich werden. Deshalb will Schwarzmann keine konkreten Ortsangaben preisgeben.
Eine halbe Stunde vorher in „Anna L.“: Schwarzmann, der stämmige Urbexer, stapft selbstsicher in den zweiten Stock. Mit seinen Adidas-Sneakers befreit er bei jedem Tritt Staubwölkchen aus den dunklen Stufenteppichen. Zielstrebig schlurft er auf einen verstaubten Flügel zu. Die Tasten – leicht angesengt und unterschiedlich eingedrückt – verharren in ihrer Position. Der letzte Walzer ist wohl schon ein bisschen her. Darum schert sich Schwarzmann nicht – er muss erst einmal die richtige Perspektive finden. Der 28-Jährige stellt sein Stativ mit der Spiegelreflexkamera auf. Und flucht: „Scheiße!“. Der Lichteinfall stimmt nicht. Er flucht erneut. Der Winkel passt nicht. Er verrückt das Stativ und positioniert es neu. Dutzende Male, bis er zufrieden ist. So richtig zufrieden ist er dann doch nicht: „Das Objektiv ist einfach nicht das richtige!“, ärgert er sich. „Da will ma’ der Freundin einma’ ’ne Freude machen, dann sowas“, schüttelt er den Kopf. Und fährt sich mit der Hand über seine Fast-Glatze.
Nadine Obermaier begleitet ihren Freund seit April beim Urbexen. Gemeinsam waren sie schon in Italien, Luxemburg und Belgien. Sie hat sich ein Bild von dem Flügel gewünscht und interessiert sich vor allem für die Gebäude, wo man „noch erkennen kann, wer da gelebt hat“, erzählt sie. Dabei streicht sie sich ihr blondes Haar aus dem Gesicht. Aus den wirr verstreuten Unterlagen in „Anna L.“ reimt sie sich ihre eigene Familiengeschichte der Krafts zusammen.
Auf dem brüchigen Medizinerschreibtisch gegenüber dem Flügel hier im zweiten Stock liegt das Gästebuch. „Irgendwann Mai 2014“ müsse es gewesen sein, erinnert Schwarzmann sich. Während er weiter versucht, den Flügel auf die Linse zu bringen, blättert Obermaier durch das Buch. Immer wieder hält sie inne, um die Seiten zu studieren. Und tatsächlich: „Wasted Place – Andy, Roland“ heißt ein Eintrag. Seine Augen beginnen zu leuchten: „Krass, dass des noch drinnen steht“, prustet Schwarzmann los. Und stupst seine Freundin mit dem Ellbogen an.
Eigentlich arbeitet der Bayreuther als Logistiker. Aber am Wochenende fährt er raus, um die verlassenen Gebäude der Republik zu erkunden. Meist mehrere hunderte bis tausende Kilometer. 300 bis 400 „places“ hat er schon besucht. Unterwegs ist er „alle zwei Wochen, wenn ich kinderfrei hab’“, feixt Schwarzmann. Früher hat der Vater einer vierjährigen Tochter viel Zeit in Recherche investieren müssen. Mittlerweile braucht er manchmal nur ein paar Tage, um mit Tipps aus der Community die „places“ zu finden.
Neben Hessen geht es an diesem Tag auch nach Nordrhein-Westfalen. In einem kleinen Dorf in der Nähe von Paderborn steht ein verwildertes Hotel. Besetzt von Efeu, der rundum an den Fenstern rankt. Er hüllt das mehrstöckige Haus in einen magischen Ruhepol. Durch das angelehnte Fenster an der Seite geht’s rein. Vom Fenstersims auf einen kleinen Schemel, der wohl schon anderen als Einstiegshilfe gedient hat. Ein bitterer Geruch betäubt die Nase: Beißende Feuchtigkeit liegt in der Luft. „Ich liebe es, wenn’s schimmelt“, jauchzt Schwarzmann. Anders als viele in der Szene trägt er keine Atemschutzmaske.
Ein Tisch mit vier Stühlen, die unbeweglich im Boden verankert scheinen, ist sein erstes Motiv. Die purpurroten Bezüge der Stühle leuchten in dem dunklen Raum auf. Auf dem runden Tisch steht eine Vase mit längst verwelkten Blumen. Der Anblick überwältigt den Hobbyfotografen: „Die Bude hab’ ich zum ersten Mal vor eineinhalb Jahren g’sehn!“. Die eine Hand hat er in der Hosentasche, die andere am Auslöser. Locker hockend stiert er auf das Display seiner Kamera. Kaum sind die Bilder gemacht, geht’s weiter mit der Erkundung. Die Nässe hat den Boden durchweicht und matschig gemacht. Er fühlt sich an wie ein Teppich, federt Schwarzmanns schwere Schritte ab.
Im Flur des ersten Stocks sieht es ein bisschen aus wie im Wald: Der Boden ist bemoost, die Wand mit einem grünen Schleier bedeckt. Vereinzelt sprießt frisches Grün aus dem Dreck. Verwunschen und eigenartig zugleich: Die Natur ist der neue Hotelchef. Nur die roten Vorhänge, ein heller Stuhl und ein Tisch mit abgebröckeltem Putz sind noch unberührt. Die Tapete blättert ab und zergleitet bei jeder Berührung zwischen den Fingern. Durch die Fenster schimmert fades Licht herein. Wieder ein neues Motiv. Routiniert folgt Schwarzmann seinem üblichen Prozedere. Richtige Position für die Kamera finden. Den Oberkörper und die Knie beugen. Angestrengt durch den Sucher schauen. Die schwarze Sonnenbrille auf den nackten Kopf schieben. Stirn runzeln. Kamera einstellen. Klack, crack, chrsch, chrsch. Und schließlich: klick. Sieben Mal. Die Bilder bearbeitet er später am Computer und lädt sie auf Instagram und Facebook hoch.
Wieder zurück im Auto erleichtert sich der Himmel. Eine große wässrige Last fällt aus allen Wolken. „Schwarze Regentropfen, es ist Fallout!“, rappt Bushido aus dem Autoradio, während Kaulquappen in Wasserform die Fensterscheiben abwärts sickern. Obermeier überkreuzt ihre Beine wie aus Protest auf dem Armaturenbrett. „Scheiß Wetter, scheiß Tag, scheiß Route, aber acht geile Bilder“, sagt Schwarzmann und dreht sich lachend zu seiner Freundin.
Die letzten Kilometer gen Heimat sind fast geschafft. Zwei Wunderbäume, Geruchsrichtung „Sportfrische“, und ein rosa Glitzerstern schaukeln am Innenspiegel um die Wette. Langsam überkommt das Pärchen die Müdigkeit. Schwarzmann fasst noch einen letzten klaren Gedanken und rechnet zusammen: Circa 1.500 Kilometer sind sie heute gefahren. Für drei „places“. Von halb zwei nachts bis halb neun Uhr abends waren sie unterwegs. „’N ganz normales Sümmchen von ’ner kleinen Tour also“, ergänzt der Urbexer breit grinsend.
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