Man möchte helfen, die Gesellschaft verbessern und seinen Lebenslauf aufpolieren. Ehrenamtliches Engagement ist beliebt – Jeder dritte Deutsche ist freiwillig aktiv. Was aber passiert, wenn man unfreiwillig zum Helfer wird und eigentlich ein ganz anderes Ziel verfolgt?

Zum sechsundzwanzigsten Mal öffnet sich für mich der Fahrstuhl zur Wohngemeinschaft der dritten Etage. Ein vertrautes Duftgemisch von Kaffee, Toilette und Desinfektionsmittel. Zehn Gesichter, von denen nur eins kurz aufschaut, zwei in Monologe vertieft sind und die restlichen ins Leere starren. Es hat sich also nichts verändert. Fast nichts. Einige Bewohner sind neu, bekannte Gesichter wirken noch älter als vor einem Jahr. Heute bin ich nur Besucher. Während meiner Zeit als Freiwillige, die nun ein Jahr zurück liegt, habe ich mich jedoch nicht weniger fremd gefühlt.
Mit Beginn der Oberstufe hatte ich eine Entscheidung getroffen: Ich wollte neben dem Abitur auch das International Baccalaureate (IB) ablegen. Der Doppelabschluss bedeutete mehr Stunden, mehr Lernen, mehr Stress. Aber das IB-Programm verlangte nicht nur einen erhöhten Einsatz in der Schule, sondern beanspruchte mein Leben auch außerhalb – zumindest das, was davon noch übrig war. Zum IB-Diploma gehörte auch das Creativity Action Service Programm, kurz CAS. Ich sollte mich in meiner Freizeit sportlich, kreativ und sozial engagieren – insgesamt 150 Stunden, 50 in jedem Bereich. Die ersten beiden Buchstaben bereiteten mir wenig Probleme: meine sportlichen und kreativen Aktivitäten waren alle selbstgewählt, teilweise Langzeithobbys von mir. Aber das S, also Service, stellte mich vor eine Herausforderung, war Neuland für mich. Gerne hätte ich mich zwischen einem Engagement im SOS-Kinderdorf, im Tierheim oder der Hausaufgabenbetreuung entschieden. Diese Wahlfreiheit wurde uns Schülern beim S genommen. Mein Lehrer schickte uns allesamt in Alters- und Pflegeheime.
Aller Anfang ist schwer
„Hast du bereits Erfahrungen mit Demenz gemacht?”, fragte mich die Leiterin an meinem ersten Tag in der Inneren Mission. Es folgte ein zehnminütiger Crashkurs über Demenz. Die Symptome waren mir alle nicht unbekannt. Trotzdem wusste ich nicht, wer und was mich gleich erwarten würde. Auf dem Weg zur Wohngruppe 3 ging ich angestrengt und nervös mein kleines Repertoire an Fragen durch, die ich mir für den Gesprächseinstieg mit den Senioren überlegt hatte. Zum Wetter oder dem Geschmack des Kaffees würde jeder etwas sagen können. Andere Themen dagegen sollte ich lieber meiden: „Wie geht es Ihrer Familie?” oder „Was haben Sie gestern gemacht?” brachten die Gefragten oft in eine unangenehme Situation. Sie konnten diese Fragen nicht beantworten, weil sie vergebens in ihrem lückenhaften Gedächtnis kramen mussten. Fettnäpfchen vorprogrammiert.
Die Eingewöhnung verlief schleppend. Jede Woche aufs Neue von null starten: sich immer wieder vorstellen, vergeblich versuchen, die leeren Blicke der Menschen zu ergründen und sie in ein Gespräch zu verwickeln, das über die Witterungslage hinausging. Es war mühsam. Meine einzige Motivation: die Tabelle mit meinen abgeleisteten Stunden, die sich langsam füllte. Aber es lagen noch zu viele Monate vor mir, um zu resignieren. Ich wurde erfinderisch, suchte im Lagerraum nach simplen Spielen und Beschäftigungsmöglichkeiten, die die lähmende Atmosphäre auflockern könnten. Einige Senioren ließen sich für Puzzle begeistern oder zumindest für die Bilder darauf. Die nächste Woche brachte ich ein Bilderbuch mit, Schneewittchen. Die verzückten Laute der Damenriege beim Anblick der süßen Häschen und der hübschen Kleider ließen auch mein Herz aufgehen.
Ehrenamt ja, aber…
Aber Proteste innerhalb der Klasse hielten an. Ehrenamtliches Engagement? Ja gerne. Im Altersheim? Nein danke. Einige meiner Mitschüler waren bereits ehrenamtlich in der Kirche oder einer Suppenküche aktiv, aber sie durften es nicht als CAS Stunden anrechnen lassen. Es bildeten sich drei Lager: die Begeisterten und Erfüllten, die wohl weit über ihre 50 Pflichtstunden hinausschießen würden. Die Zufriedenen, wie ich, die sich mit ihrem “Projekt Altersheim” arrangiert hatten. Zuletzt gab es die Miesepeter, verbittert und unzufrieden in ihren Heimen, aber vor allem eins: hilflos. „Was soll ich denn die ganze Zeit da machen?” oder „Ich gucke alle fünf Minuten auf die Uhr, aber die Zeit vergeht einfach nicht”. Diese Fraktion veränderte sich die Position über das Jahr nur minimal. Sie wollten gerne in der Gesellschaft Helfer spielen, aber nicht nach fremden Spielregeln.
Ich habe einige Zeit benötigt, um zu begreifen, dass es in Wohnetage 3 um die kleinen Freuden und nicht um Veränderung ging. Die Gedächtnisspiele würden die Bewohner nicht von ihrer Demenz heilen, genauso wenig wie ich mit Bilderbüchern alle in den Bann ziehen würde. Aber ich war stolz über jedes einzelne Lächeln, dass ich ihnen entlocken konnte. Die Musik entpuppte sich als „Wunderheilmittel”. Obwohl sich die Erinnerungen der Senioren immer mehr ausradierten, schienen Melodien und Texte alter Volkslieder immun gegen ihren Gedächtnisverlust. Nur beim gemeinsamen Singen hatte ich das Gefühl von einem Zusammenleben der Bewohner.
Ein Lächeln, ein Augenzwinkern, ein Händeklatschen – diese kleinen Zeichen von Glück – das waren meine persönlichen Erfolge. Der Abschied von den vertrauten alten Gesichtern fiel mir schwerer, als ich es erwartet hatte. Und das, obwohl sich hier niemand an mich erinnern würde. Ich hatte mein Engagement als Unfreiwillige angetreten, nur mit dem Ziel, meine Pflichtstunden für das IB-Diploma zu erfüllen. Dementsprechend sind meine ersten Wochen verlaufen: angestrengt, lustlos und widerstrebend. Der Knackpunkt kam, als ich die Initiative ergriff und plötzlich aktiv mein Engagement mitgestaltete. Heute, ein Jahr später, bin ich als Freiwillige an diesen Ort zurückgekehrt.
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