Schon Thomas Mann wusste: „Die Gewohnheit ist ein Seil. Wir weben jeden Tag einen Faden, und schließlich können wir es nicht mehr zerreißen.“ Übertragen heißt das: jeden Morgen das gleiche Prozedere. Auch bei mir. Nach dem Aufstehen schlaftrunken zur Kaffeemaschine tapern, das Knöpfchen drücken und schnell unter die Dusche hüpfen. Beim Styling den Kaffee trinken und die Mails checken. Auf dem Weg zur Bahn beim Bäcker Halt machen, das immer gleiche Brötchen kaufen und an exakt der gleichen Stelle die Straße überqueren, weil dort der Bordstein schön tief liegt. Ampel eins links liegen lassen, weil Ampel zwei bekanntlich schneller auf Grün umspringt. Anschließend in den vordersten Wagen der Bahn einsteigen, weil von dort der Weg in die Redaktion kürzer ist…
Die ungesunde Bequemlichkeit gefällt
In beliebig epischer Länge könnte die Beschreibung des Tages fortgesetzt werden. Das Ergebnis ist eindeutig: Gewohnheiten dominieren den Tagesablauf. Meist unbewusst, fast schon verselbstständigt lebt unser Gehirn wie ein alter verknöcherte Knabe, dem es schwer fällt, sich auf Ungewohntes einzulassen. Die ungesunde Bequemlichkeit gefällt – ja, Änderungen missfallen sogar.
Schließlich ist der Mensch ein Bildnis seiner Angewohnheiten. Routine, Rituale und die eigenen Macken bestimmen die Alltäglichkeit. Dabei sind wir gar nicht als ein solches Gewohnheitstier auf die Welt gekommen. Vielmehr hat es sich entwickelt, gewisse Gepflogenheiten haben sich fest verkeilt in unserem Unterbewusstsein. Beim Lieblingschinesen gibt es ohne einen Blick auf die Speisekarte immer die Nummer 17, jedes Wochenende wird die Großmutter angerufen und für Raucher ist es völlig selbstverständlich, den Arbeitsplatz mehrfach pro Tag für die eigene Sucht zu verlassen. Das haben wir doch schon immer so gemacht, warum soll’s denn plötzlich anders gehen? Das sind wir schließlich so gewohnt. Oder nicht?
Zeitweise blitzt die Neugier hervor
Und doch zeigt es sich manchmal, in all der Routine: das zeitweise hervorblitzende Bestreben, doch mal etwas Neues auszuprobieren. Manchmal reicht ein kleiner Hinweis eines Freundes, um aus dem eintönigen Trott herauszukommen und neue Wege zu entdecken. Warum nicht die supertollen Joggingschuhe kaufen und endlich mal den letzten Silvester gefassten sportlichen Vorsatz umsetzen? Oder den Modemagazinen glauben und den Kleiderschrank mit knalligen Farben auffüllen? Vielleicht doch nur den Anruf bei der Oma auf die Mitte der Woche verlegen?
Die Haltbarkeit von guten Vorsätzen ist begrenzt. Argwohn macht sich breit. Mache ich einen Fehler? Wie wirke ich, wenn ich mich plötzlich anders verhalte als „normal“? Und wer traut sich überhaupt, mich auf meine Eintönigkeit aufmerksam zu machen?
Das Gewohnheitstier zu Neuem bewegen
Der Nutzen des Prokrastinierens, dem Aufschieben für Fortgeschrittene, liegt möglicherweise darin, dass Gewohnheitstiere auch nichts falsch machen können. Niemand hat Schuld, wenn es nicht klappt. Schließlich bleibt alles beim Alten. Wer erst gar nicht versucht, etwas Neues zu bewegen, kann auch nicht scheitern, nicht verletzt werden oder Schaden nehmen. Aber er erfährt eben auch nicht das belebende Gefühl einer positiven Änderung. Fazit: Die Grenze zwischen Wandel und Gewohnheit ist nicht immer ganz einfach zu ziehen. Daran müssen wir arbeiten, alle Jahre wieder.
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