Gehen müssen wir alle. Schlendern ist hingegen eine viel zu selten beleuchtete Art, wie man seine Lebenswege beschreiten kann. Ein Plädoyer von Tobias Kolb.

Wenn ich durch die Straßen laufe, sehe ich sie: Viele Menschen, die eilig ihrer Wege gehen. Die Hälfte davon hat ohnehin Stöpsel in den Ohren und ignoriert ihr gesamtes Umfeld, während die andere entweder fast rennt oder die ganze Zeit auf ihr Mobiltelefon starrt. Und wer will es ihnen verübeln? Haben sie doch ihre Termine einzuhalten, ihre Busse zu erwischen und ihre Ziele zu erreichen.
Selbst wenn ich mit Leuten Urlaub mache, geht es die ganze Zeit von einem Ort zum anderen: Schnell in eine Stadt rein und dann von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit, möglichst viel in möglichst kurzer Zeit abgrasen und dann ab ins Hotel, um auszuschlafen und am nächsten Morgen das Gleiche zu machen.
Aus dem Hamsterrad heraus schlendern
Es ist an der Zeit, eine Alternative für diesen hektischen Lebensstil aufzuzeigen und diese Alternative nennt sich „Schlendern“. Schlendern bedeutet einfach mal so, mit oder ohne konkretem Ziel, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Lässig ohne Stress in den Alltag zu schreiten und auch mal ein Auge nach rechts oder links zu werfen.
Ich liebe das Schlendern, weil es den Stress aus dem Leben nimmt. Warum nicht einmal ein paar Minuten länger einplanen und dafür noch ein Eis beim Italiener um die Ecke mitnehmen oder ein kurzes Gespräch mit einem Bekannten, den man auf der Straße trifft? Auf den ersten Blick scheint so eine Art der Fortbewegung einfach nur ineffizient und zeitraubend zu sein, allerdings ist genau das zu hinterfragen. Was meint denn „zeitraubend“? Und von wo nimmt man die Zeit weg?
Unser Leben läuft etwa so ab wie das bekannte Märchen vom Hasen und Igel. In der Grundschule leben wir auf die weiterführende Schule zu, von dort auf den Beruf oder das Studium, von dort auf größere Erfolge und den Aufstieg, auf finanzielle Sicherheit, auf eine erfolgreiche Familie und es geht immer weiter. Jedes erreichte Ziel ist nur ein Aussichtspunkt auf das nächste und bei diesem Marathon im Hamsterrad nimmt uns das Schlendern die Zeit. Vielleicht tut es das, aber es gibt sie uns auch irgendwie wieder zurück, zum Leben nämlich.
Das Leben in den schönen kleinen Momenten leben
Wenn wir uns den kleinen Umweg gönnen und durch den Park gehen oder auf dem Rückweg von der Arbeit mal jemanden besuchen, dann sind das kleine Momente, in welchen wir frei sind und Ruhe in den Alltag bringen. Wir machen die Tage zu etwas Besonderem, weil sie nicht alle monoton durchgetaktet sind. Wenn wir uns für ein paar Minuten auf die Parkbank setzen und dem Spiel eines Straßenmusikers lauschen, verlieren wir dabei nichts und es entschleunigt unser Leben sehr. Nach der Devise: Ich darf mein Leben genießen und ich darf für andere da sein, lohnt es sich mit offenen Augen durchs Leben zu schlendern.
Wenn man bereit ist, das Leben als Geschenk zu betrachten und nicht als Aufgabe oder Wettrennen, dann kann man sich auch von falschem Leistungsdruck freimachen , ohne dass man gleich in Lethargie verfällt. Es geht mir nicht darum, zu sagen, „der Weg ist das Ziel“ oder so. Es ist wichtig und gut, Ziele zu haben und auch zu wissen, wohin der Lebensweg führen soll. Das Leben sollte aber keine ICE-Fahrt sein, bei der man in krasser Geschwindigkeit und in festen Bahnen auf den Tod zurast.
Es sollte besser ein Spaziergang sein, bei dem man viel Schönes und Hässliches erleben darf und auf einem Weg geht, aber trotzdem auch mal die Freiheit hat, an einer Blume zu riechen, einen Apfel zu pflücken oder einen Freund zu besuchen. In diesem Sinne kann ich als überzeugter Schlenderer das Schlendern nur jedermann empfehlen und das ganz besonders in stressigen Zeiten.
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