Es ist sehr leicht, alles aus der eigenen Perspektive heraus zu bewerten. Wenn wir nach links und rechts und vor allem nach vorne und hinten gucken, tun wir dies immer von unserem eigenen Aussichtspunkt aus. Doch ist dieser auch der einzig richtige? Können wir von ihm aus die Wahrheit sehen und ist es überhaupt möglich, andere Perspektiven einzunehmen?

Die westeuropäische Kultur als Aussichtsturm über allem
Der Mittelpunkt der Weltgeschichte. Der Punkt von dem aus alles bewertet werden sollte. Der Richter der Nationen, der Kulturen und der Zeiten. Dies alles findet sich augenscheinlich komprimiert im ethischen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Gedankengut der amerikanisch-westeuropäischen Gesellschaft der letzten zwei bis drei Jahrzehnte. Diesen Eindruck könnte man zumindest leicht bekommen. Wenn auf den Philippinen ein Drogendealer von der Regierung erschossen wird, muss diese sich dafür bei uns entschuldigen. Wenn im alten Griechenland ein Sklave gehalten wurde, bricht das die allgemein gültigen Menschenrechte, die wir aufgestellt haben. Und wenn im mittelalterlichen Deutschland oder im heutigen Indien jemand die Ehe seines Kindes arrangiert, dann ist das falsch, weil es nicht unseren Vorstellungen von Individualismus entspricht. Wie oft hört man nicht Sätze, die beginnen mit: „Zum Glück gibt es ja in unserer Gesellschaft kein…“ oder „Wie wir ja heute wissen…“.
Eine Wahrheit, viele Wahrnehmungen und Kulturen
Vielleicht hat diese Einstellung auch etwas damit zu tun, dass unser eigenes Denken uns immer näher und vertrauter ist als dasjenige der anderen. Wenn uns in einem Gespräch schon oft das Verständnis für unser Gegenüber und seine Gedanken und Handlungen fehlt, ist es natürlich klar, dass wenn der zeitliche, geographische und kulturelle Abstand wächst, auch das Verständnis abnimmt. Jeder Mensch hat einen etwas anderen Zugang zur Realität. Wenn dieser Spruch für einzelne Menschen zählt, dann tut er das in größerem Ausmaß eben auch für Völker und Kulturen.
Das bedeutet nicht, dass es keine Wahrheit gibt, aber es bedeutet, dass man bei der Suche danach ruhig mal aus dem eigenen Denken heraussteigen und sich Herausforderungen stellen sollte. Wenn man sich also ein Urteil über die Handlungen einer Person oder eines Staates bilden will, so ist es wichtig, dies unter Berücksichtigung der Perspektive dieser Zeit und dieses Denkens zu tun und dabei nicht zu vergessen, dass nichts ohne Grund passiert und dass man es auch mit Menschen zu tun hat, die genauso „sind“ wie du und ich.
Wir halten Dinge oft aufgrund unserer Prägung, unseres Wissensstandes und unserer Situation für gut oder schlecht, und die Menschen anderer Prägungen und Wissensstände eben aufgrund der ihren.
Die katholische Kirche als Beispiel des übergesellschaftlichen Denkens
Spannend ist dies am Beispiel der katholischen Kirche zu betrachten, die eben sowohl den Diözesen und Gläubigen in der ganzen Welt als auch ihrer Geschichte verpflichtet ist. Es gibt einen spannenden Konflikt auf Themenfeldern wie beispielsweise in der Sexualethik, wo zwischen den Traditionsbewussten und den Progressiven und zwischen den Deutschen und den Afrikanern diskutiert wird, ob wir uns nun tatsächlich in einer anderen Zeit befinden, in der manches neu bewertet werden muss, oder ob die traditionelle Ethik immer noch Geltung hat.
Als dermaßen alte Institution fällt es dieser Kirche eben nicht so leicht wie Staaten oder Einzelpersonen, stets im „Hier und Jetzt“ einer Gesellschaft zu leben, weil sie eben als Kirche darüber hinaus reichen muss. Damit kann sie sich nicht wirklich schnell der jeweiligen Zeit anpassen, vermeidet allerdings auch die allzu schnelle Aufnahme von philosophischen Ansichten, die ihren Überlieferung widersprechen, wofür auch ihr 2.000-jähriges Bestehen spricht.
Relativismus oder Wahrheit?
Ich möchte nicht behaupten, dass alles gleich wahr oder falsch ist. Es geht nicht darum eine Form des Relativismus zu lehren. Ich bin nur der Meinung, dass man die Wahrheit in der Zeit und durch die Zeit suchen muss, wenn man sie finden will. Ich glaube, dass es eine Wahrheit gibt. Allerdings halte ich es für wenig plausibel zu sagen, dass, was die westlichen Intellektuellen des 21. Jahrhunderts als Wahrheit definieren, schon immer die einzige Wahrheit gewesen sei. Wenn es eine Wahrheit gibt, wird sie sich wohl in jeder Zeit neu zeigen und trotzdem dieselbe bleiben. Eine Wahrheit, die nicht von den Menschen definiert wird, sondern vielleicht sogar die Menschen definiert.
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