120.000 syrische Kurden auf der Flucht – innerhalb von 48 Stunden. Das sind die Schreckensnachrichten, die man aus den syrischen Gebieten Kurdistans lesen muss. Auf den Bildern: tausende verzweifelte Familien. Die IS-Milizen konnten die Peschmerga zurückdrängen. Ob man will oder nicht, von Kurdistan-Irak herrscht ein bestimmtes Bild in den Köpfen der Menschen: Krieg, Flüchtlinge, Armut – ein Land mitten in der Katastrophe. Und diese menschlichen Katastrophen finden sich hier auch, aber anders, als es weit verbreitet dargestellt wird. Dafür, dass das Land mit 5,3 Millionen Einwohnern auf einen Schlag mittlerweile zwei Millionen Flüchtlinge aufgenommen hat, macht es nach wie vor das Beste aus seiner Lage. Die Kurden sind sehr stolz. Aber sie brauchen Hilfe in diesem Kampf – denn es ist nicht allein ihr Krieg.
Es sollte das neue Dubai des Mittleren Ostens werden – Erbil, die Hauptstadt Kurdistans. Die Stadt, aus der Menschen laut deutschen Medien scharenweise fliehen, aus Angst vor IS. Die Stadt, die gerade ein Hotel nach dem anderen hochzieht und in der bei Tag und auch bei Nacht weiße Autos mit in Zivil gekleideten Sicherheitsbeamten Patrouille fahren, um für die Sicherheit seiner Bürger zu garantieren. In der Stadt, in der es entweder mehr Baustellen oder Bauruinen gibt – das ist nicht immer ganz offensichtlich. In dieser Stadt wird Politik gemacht. Zumindest so weit, wie die Zentralregierung Bagdads das eben erlaubt.
Kurden – für ihre Nachbarländer Iraker zweiter Klasse
Wenn es aber um die Flüchtlingsproblematik geht, werden die Kurden allein gelassen, so Awny. Das sei ihr alleiniges Problem, darum müsse sich das Land selbst kümmern. „Für Bagdad sind Kurden Iraker zweiter Klasse“, sagt Awny. Gelder zur Unterstützung kommen aus Bagdad keine. Deshalb könne derzeit kein anderes Projekt in Kurdistan angegangen werden, wie beispielsweise das Referendum zur Unabhängigkeit. Die Unterstützung der Flüchtlinge braucht alles Geld, die Peschmerga an der Front alle Kraft der kleinen, aber starken Nation. Was viele nicht wissen – die Regierung der Autonomen Region kann zurzeit nicht einmal die Gehälter der Peschmerga bezahlen. Sämtliche Löhne wurden gestrichen.
Es gibt so viele Probleme in dieser Region: Flüchtlinge, IS-Milizen praktisch vor der Haustür, eine unklare politische Situation. Wer an den Irak denkt, denkt zurzeit sicher nicht an Wachstum, Aufschwung und Sicherheit. Aber all das ist zu sehen – der kurdische Norden hat vor dem Krieg gegen IS einen immensen Aufschwung erlebt. Und nach wie vor scheinen sie die Stabilisatoren der fragilen Region zu sein. Hotels, Malls, Flughäfen – seit der Einführung der irakischen Verfassung von 2005 hat sich Kurdistan-Irak Schritt für Schritt autonome Rechte erkämpft. So verfügen sie mittlerweile über eine eigene Armee, wählen unabhängig vom Zentralirak das Parlament und vergeben immer häufiger ohne Beteiligung Bagdads Förderlizenzen für Öl. Und jetzt – überall Männer mit Kalaschnikows. Bärtige, in sandfarbenen Uniformen, die entscheiden, wer wo zu wem hinein darf. Hüter des Friedens, an deren Schultern Patronengurte baumeln. Links und rechts ihrer Checkpoints kniehohe Barrikaden aus Beton, auf dem Mittelstreifen ein Wachhaus, bewehrt mit Sandsäcken und Stacheldraht.
„Das einzige, was die Armut beseitigen kann, ist miteinander zu teilen.“ – Mutter Teresa
Trotz allem Optimismus der IS-Gewalt Widerstand leisten zu können, trotz allem Mut der Peschmerga, trotz allem Aufschwung, merkt man Politikern wie Sasan Awny an, wie dringend sie auf westliche Hilfe angewiesen sind. Gerade jetzt – wo so viele ihrer eigenen Landsleute auf der Flucht sind. Diese Hilfe brauchen sie, diese Hilfe haben sie verdient – oft hört man bei allen politischen Begegnungen eines heraus: als Repräsentant für die ganze Welt kämpft die kurdische Region gegen die IS-Milizen. So schreibt es auch das kurdische Parlament auf seiner Website. Sie erwarten die Unterstützung zu Recht.
Sasan Awny möchte, dass eine bestimmte Botschaft der Kurden nach Deutschland getragen wird und er will, dass die Deutschen den Kurden zeigen, wie der Aufbau eines Landes geht – denn Deutschland sei Vorbild, nachdem es sich nach dem Zweiten Weltkrieg in so kurzer Zeit wieder aufgebaut hat. Dabei könnte Deutschland auch von den Kurden lernen – lernen, wie man teilt, obwohl man kaum zu geben hat. Die wenigen Wasserressourcen für 5,3 Millionen Einwohner nochmal innerhalb von drei Monaten an zwei Millionen Flüchtlinge zu teilen, ohne mit der Wimper zu zucken. „Wir sind Menschen, die das Leben lieben. Wir sind keine Rassisten, wir wollen in Frieden leben, mit Menschen, die das Land wieder aufbauen wollen, so wie wir. Uns ist dabei egal, ob es mit Christen, Muslimen oder Juden ist“, sagt Sasan Awny.
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