Industrialisierung, Technisierung, Modernisierung – die Zeit rast und wir hasten hinterher. Auf dem Weg geht uns nicht nur unsere innere Ruhe, sondern auch jede Menge Energie und Kreativität verloren. Warum es sich lohnt, einmal innezuhalten und sich im „Nichtstun“ zu üben.

Ich liege im Bett und starre an die Decke. Meine Uhr habe ich ausgezogen, mein Handy in die Schublade des Nachttischs verbannt und nun liege ich da und wage ein Experiment: Ich tue nichts. Genauer gesagt, warte ich. Ich warte auf den schon von Philosophen und Künstlern, von Cicero bis Eichendorff, hochgepriesenen Moment, in dem aus Nichtstun Müßiggang werden soll, aus Faulenzen Inspiration. In den zwei Stunden, in denen ich nichts tue, schreibe ich zwar weder einen Bestseller-Roman noch eine neue Komposition, begebe mich aber auf eine interessante Reise in die Geschichte unserer gesellschaftlichen Konventionen.
„Wenn man nichts tut, bleibt nichts ungetan“
Wieso fällt es mir so verdammt schwer, das Nichtstun überhaupt anzugehen? Das Prinzip ist doch ganz einfach, ich muss ja gar nichts tun! Und doch erfordert das Nichtstun eine ganze Reihe Taten. Ich verbanne Handy und Uhr aus meinem Sichtfeld, drehe dem Leistungsdruck den Rücken zu und lache der Zeit ins Gesicht. Ich versuche den Staub auf meinem Bücherregal zu ignorieren und die Einkaufsliste zu vergessen. Selbst das Schreiben dieses Artikels sperre ich in den Dachboden meines Gehirns. Aber was passiert, wenn nichts passiert? Wenn die Muse mich nicht küsst und die Erleuchtung abhanden bleibt? Habe ich dann zwei Stunden verstreichen lassen, wirklich zwei Stunden lang gar nichts getan? Der Anflug von Panik, der mich überkommt, macht mir bewusst, dass es mir noch nicht mal gelingt, vom Nichtstun nichts zu erwarten.
Die Bedrohung der tickenden Lebensuhr
Jetzt ist es wohl offiziell. Bin ich ein Opfer der Leistungsgesellschaft? Oder, noch schlimmer, ein Opfer der Zeit? Sie entrinnt mir und ich unterliege ihrem Druck. In Anbetracht der Ewigkeit werden die Jahre, die mein Leben bedeuten, zu Millisekunden. „Ich muss das Beste aus ihnen rauszuholen, etwas aus diesem Leben machen“, so die gedankliche Dauerschleife. Ständig werde ich verfolgt von diesem Effizienzgedanken, der mich dazu bringt, jede Sekunde ausquetschen zu wollen wie eine Zitrone. In meinem Alter hatte meine Oma schon geheiratet, mein Vater schon gearbeitet und Justin Bieber schon zwei Platten rausgebracht. Und ich? Vor lauter Tun-Wollen, tue ich nichts.
Die „Sieben-auf-einen-Streich“-Mentalität
Vielen Menschen ergeht es wohl so wie mir. „Homo oeconomicus“, Wirtschaftsmensch, nennt man in der Wirtschaftswissenschaft das Modell, welches den Menschen als „Nutzenmaximierer“ beschreibt. Er ist allwissend und wägt jede Entscheidung mit dem Kosten-Nutzen-Faktor ab. Noch ist das Ganze nicht mehr als eine Theorie, die jedoch gar nicht so weit von der Praxis entfernt zu sein scheint. Unsere Umwelt suggeriert uns nicht nur, dass wir unmöglich einfach mal nichts tun können, sondern auch, dass wir am besten alles gleichzeitig tun sollten. Multitasking scheint uns die löblichste Tugend, Smartphone und Co. sind dabei unsere ehrwürdigen Gehilfen. In der Bahn sitzen und die E-Mails checken, perfekt! Das Klo putzen und mit Mutter telefonieren, bingo! Beim Date mit der Freundin über den letzten Spielstand Bescheid wissen, erstrebenswert! Und, langsam aber sicher, wird uns die „Zwei-Fliegen-mit-einer-Klappe“-Maxime zum Verhängnis.

„Müßiggang ist aller Laster Anfang“
Wer den Grundstein für diesen blinden Aktionismus gelegt hat, bleibt umstritten. Manche führen ihn auf Luther und seinem, von Max Weber als „Protestantische Ethik“ betitelten, Arbeitssinn zurück. In seiner Interpretation der Bibel stellte der Mönch fest, dass jeder Mensch von Gott in seinen Beruf auserwählt worden ist. Gott gegenüber wohlgefällig zu leben bedeutete somit nicht länger mönchische Askese zu betreiben, sondern „seinen innerweltlichen Pflichten nachzugehen“. Arbeiten wurde zur Christenpflicht.
Andere wiederum sehen in Benjamin Franklin den Sündenbock. Als einer der Gründerväter der Vereinigten Staaten war er der Meinung, der Sinn des Lebens sei es keine Zeit zu verlieren und sich „aller unnützen Tätigkeit zu entsagen“. Anders als andere Moralapostel und Prediger folgte er zumindest seiner eigenen Doktrin und legte, so heißt es, für jede Stunde seines Tages in seinen Tagebüchern akribisch Rechenschaft ab. Mit seinem Motto „Zeit ist Geld“ prägte er die Lebensphilosophie der industriellen Moderne maßgeblich.
Der Müßiggänger von gestern ist der „Sozialschmarotzer“ von heute
Das lateinische „Industria“ (beharrliche, nachhaltige Tätigkeit; Fleiß) wird nicht nur zum Namensgeber, sondern auch zum Leitsatz des Jahrhunderts. Richtig arbeiten tut nur wer „anpackt“, denn Fließbandhandgriffe sind quantifizierbar, Gedanken nicht. So wird Fleiß an Schweißtropfen gemessen und wer nicht schuftet, gilt als Taugenichts, im schlimmsten Fall als Sozialschmarotzer. Aber wofür die ganze Arbeit? In seinem Essay „Lob des Müßiggangs“ schrieb der Nobelpreisträger Bertrand Russell: „Bei dem Stand der modernen Technik wäre es möglich, allen Menschen Freizeit und Muße gleichmäßig zuzuteilen, ohne Nachteil für die Zivilisation.“ Mechanisierung und Industrialisierung sollten Arbeitsprozesse optimieren, um die Menschen entlasten. Ziel war es nicht nur Kosten zu senken, sondern auch Zeit zu sparen. Zeit, die im besten Fall dem Müßiggang dienen sollte. Stattdessen wurden wir Sklaven des grenzenlosen Wachstums.
Aus Arbeitszeit wird Freizeit, aus Freizeit Arbeitszeit
Versklavt sind wir immer noch, wenn auch auf eine andere Art und Weise. Heute sind wir viel mehr Sklaven unseres Selbst und unseres Anspruchs an den Beruf. Dem Verständnis von Arbeit als bloßem Gelderwerb steht seit einigen Jahrzehnten die Idee von Arbeit als Möglichkeit zur Selbstverwirklichung entgegen. Als glücklich gilt, wem es gelingt, sein Hobby zum Beruf zu machen. Im besten Fall arbeitet dieser dann, ohne es zu merken. Was derjenige jedoch auch nicht merkt, ist wann er frei hat. Ein öffentlicher Bekenner und Begründer dieser Arbeitsphilosophie ist das Internetunternehmen Google. „Seriös sein, ohne einen Anzug zu tragen“, lautet der neunte der zehn Arbeitsgrundsätze des Unternehmens. „In unserer ungezwungenen Atmosphäre können Ideen in der Warteschlange im Café, während eines Team-Meetings oder im Fitnesscenter entstehen“. Die Mitarbeiter leben in Google-WG´s und gehen auf Google-Parties, Leben ist Google und Google ist Leben. Auch wenn die TGIF-Treffen („Thank God it’s Friday – Zum Glück ist Freitag“), bei denen sich jeder aktiv einbringen und Fragen an das Management richten kann, ein bisschen scheinheilig erscheinen, ist Google einer der beliebtesten Arbeitgeber. 84 Prozent der Mitarbeiter behaupteten bei einer Payscale-Umfrage mit ihrer Arbeit „extrem zufrieden“ oder „ziemlich zufrieden“ zu sein.

Die Selbstverwirklichungsfalle
Die Verschiebung der Grenzen zwischen Freizeit und Arbeitszeit, der fließende Übergang vom Privatleben ins Arbeitsleben birgt jedoch seine Tücken. In Deutschland wurden im Jahr 2015 nach Berechnungen bzw. Schätzungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg rund drei Milliarden Überstunden geleistet – davon die Hälfte unbezahlt. Die Wahrscheinlichkeit, dass Überstunden häufig nicht als solche empfunden wurden, ist hoch. Kein Wunder, dass die WHO das „Burn-Out-Syndrom“ als eines der größten Bedrohungen des 21. Jahrhunderts sieht. 2011 wurden bundesweit 59,2 Millionen Arbeitsunfähigkeitstage aufgrund psychischer Erkrankungen registriert, 80 Prozent mehr als in den letzten 15 Jahren.
Mehr oeconomicus und weniger sapiens
Zwar besser wirtschaftend, aber weniger wissend, so ist demnach der Mensch der keinen Müßiggang pflegt. Denn tatsächlich gibt uns Müßiggang wertvolles Wissen über uns selbst und unsere Umwelt, einen Blick für Dinge, für die wir sonst vor lauter Geschäftigkeit blind sind. Pausen und Nichtstun sind für unsere Seele ein tiefes Luftholen, bei dem wir unseren Geist mit Sauerstoff versorgen, Kreativität und Energie tanken. Vielleicht sollten wir also, für unser Wohl und das der Gesellschaft, ein bisschen öfter dem Leistungsdruck die kalte Schulter zeigen und uns dem hingeben, was schon Sokrates als „die Schwester der Freiheit“ betitelte, der Muße. Es bedeutet nicht, nicht zu arbeiten, sondern es für uns zu tun.
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