Geld regiert die Welt? Nicht für Raphael Fellmer. Fünf Jahre lang hat er mit seiner Familie ohne Geld gelebt und die Grenzen zwischen Abhängigkeit und Freiheit, Bescheidenheit und Schmarotzertum ausgelotet.

Wir leben, um zu arbeiten und arbeiten, um zu leben. Genauer gesagt, um zu konsumieren. Das ist schließlich das Grundprinzip unseres kapitalistischen Wirtschaftssystems: Mit unserer Arbeit verdienen wir Geld, um Waren oder Dienstleistungen zu kaufen, die andere mit ihrer Arbeit produziert haben. Diese haben dabei wiederum Geld verdient, um Waren oder Dienstleistungen zu kaufen, die andere mit ihrer Arbeit… und so weiter und so fort. Im Zentrum aller Tauschgeschäfte steht dabei das Geld als allgemein anerkanntes Zahlungsmittel, durch das der Wert von Waren und Arbeit festgelegt und so ein vermeintlich fairer Austausch ermöglicht wird. Geld bestimmt wie wir leben (können), es macht uns frei und abhängig zu gleich. Ein Paradoxon.
Weg vom konditionierten Leben …
Diesem Dilemma des gelddominierten Lebens wollen immer mehr Menschen entkommen. Dass wir von allem weitaus mehr produzieren als wir eigentlich brauchen (und verbrauchen), ist mittlerweile auch bei den ungehaltensten Konsumenten angekommen. Die Zahlen sprechen für sich: 18,4 Millionen Tonnen Lebensmittel werden jährlich nur in Deutschland weggeschmissen. Obwohl wir mit dem, was wir weltweit produzieren, 14 Milliarden Menschen ernähren könnten, muss jeder siebte Erdenbürger Hunger leiden. Ähnlich erschreckend ist die Statistik der Bekleidungsindustrie: 700.000 Tonnen Textilien landen in Deutschland jährlich auf dem Müll. Und auch was Fortbewegungsmittel angeht, leben wir mehr als im Überfluss: 3,7 Plätze bleiben in einem Auto durchschnittlich unbesetzt. Und das, obwohl ein Auto mehr Energie verbraucht als ein Vier-Personen-Haushalt in zehn bis fünfzehn Jahren. Kurz gesagt: Würde die gesamte Menschheit so leben wollen wie wir in Europa, bräuchten wir fast drei Erden.
… hin zu einer menschenfreundlichen Wirtschaft
Ressourcen sind also genug vorhanden, an der Verteilung hapert es noch. Dies zu ändern hat sich die alternative Wirtschaftsform der „sharing economy“ auf die Fahnen geschrieben. Getreu dem Motto „Teilen ist das neue Kaufen“ entstehen aus der neuen Bewegung immer mehr grüne Start-Ups und Plattfomen, die nicht nur die Umwelt, sondern auch unser Portemonnaie schonen. Zu ihr gehört zum Beispiel die Internetseite www.Foodsharing.de, auf der „gerettete“ Lebensmittel kostenlos zur Verfügung gestellt werden. Freiwillige Helfer, sogenannte „Foodsaver“ holen übriggebliebene Lebensmittel bei kooperierenden Supermärkten und Kantinen ab und laden sie auf die Plattform hoch. Auf einer interaktiven Karte kann hier jeder sehen, wo in seiner Nähe sogenannte „Essenskörbe“ angeboten werden und diese dann umsonst abholen oder sogar selbst übriggebliebene Lebensmittel anbieten. Auf Facebook zählt die Seite mehr als 97.000 Likes – der beste Beweis dafür, dass sich die „Weniger-ist-mehr-Mentalität“, langsam aber sicher, aus den Köpfen der „Ökos“ in die Einkaufstaschen der Normalverbraucher schleicht.

Kein Konto, keine Karte, kein Cent
Gründer der Plattform und größter Verfechter des geldfreien Lebens ist der 34-jährige Raphael Fellmer. 2010 erhielt der damals noch studierende Fellmer eine Einladung zu einer Hochzeit – in Mexiko. Angesichts der überteuerten und umweltverschmutzenden Flüge beschloss er kurzerhand, die Reise ohne Geld zu bestreiten und Länder und Meere von Holland bis nach Mexiko per Anhalter zu durchqueren. Nach einer 15-monatigen Reise kehrte er zwar ohne Hochzeitserinnerungen, die Feier hatte er nämlich verpasst, aber mit einer Vision im Gepäck zurück: geldlos glücklich zu leben. Er glaubte daran, dass „wir als Spezies über das Geldzeitalter, das monetäre System, hinweggehen können“ und begab sich in den Geld- bzw. Konsumstreik. Fünf Jahre lang lebten Fellmer, seine Frau Nieves und Tochter Alma ohne einen Cent auszugeben, geschweige denn zu besitzen. Wie das funktionierte? Sie lebten maßgeblich von dem, was andere nicht brauchten. Ihre Souterrain-Wohnung stellte der Besitzer, der die Idee der kleinen Familie unterstützen wollte, kostenlos zur Verfügung und anstatt im Supermarkt einkaufen zu gehen, „rettete“ Fellmer diese in eine Nacht- und Nebelaktion aus deren Mülltonnen. Auf Reisen nutzte er die kostenlose Plattform couchsurfing.org und übernachtete nicht wie gewöhnlich im Hotel, sondern bei Fremden zu Hause. Wenn doch mal eine neue Anschaffung vonnöten war, bot Fellmer als Gegenleistung einen Dienst an: Kinderwagen gegen Wandstreichen, Bollerwagen gegen Fahrradreparatur. Im Grunde arbeitete Fellmer nicht für seinen Lebensunterhalt, sondern für seinen Lebenserhalt und übersprang dabei lediglich die Stufe des Geldes als vermittelndes Tauschgut.
Kritik an der Konsumkritik
So lebte Fellmer jahrelang ohne Geld, nicht jedoch ohne Konsum. Er behauptet, nur wer Geld besitze, habe auch etwas zu verlieren. Und doch kommt man nicht um die Frage herum, wie frei ihn das geldlose Leben wirklich gemacht hat. Denn indirekt war die Familie immer noch von Geld abhängig, zwar nicht von ihrem eigenen, aber von dem anderer. Seine Art zu leben war nur möglich, weil andere Menschen von seiner Vision überzeugt waren und ihn dabei, unter anderem mit Geld, unterstützten. Punkte wie diese lassen das System zweifelhaft und sich widersprechend erscheinen und werfen viele moralische Fragen auf. Wird nicht mit der Bewertung von Leistungen durch Geld jeglicher Austausch erst gerecht? Denn, lässt sich der Wert der Arbeit eines Arztes, der womöglich ein Leben rettet, durch Rasenmähen ausgleichen? Ist die Suche nach einem Äquivalent in der Bewertung nicht „Geld mit anderen Mitteln“ und wird somit, auf lange Sicht gesehen, auch Folgen wie Dependenz, Ausbeutung und Inflation nach sich ziehen? Und: Ist der Mensch altruistisch genug, um sich nur aus sozialem Anreiz bedingungslos zu engagieren?
Wenn wir uns verändern, verändern wir die Welt
2016 hat die Familie, die nun ein viertes Mitglied zählt, erstmals nach fünf Jahren wieder begonnen, Geld anzunehmen. Sicherlich lassen sich viele Punkte am Prinzip des Geldstreiks kritisieren. Fellmers extreme Lebensweise ist in unseren derzeitigen gesellschaftlichen Strukturen für die wenigsten Menschen alltagstauglich umsetzbar und hat doch für viel Aufruhr gesorgt. Durch die mediale Aufmerksamkeit, die ihm zuteilwurde, konnte Fellmer viele Menschen erreichen. Er konnte sie vielleicht nicht zum Bewusstseinswandel, zumindest aber zum Nachdenken bringen. Darüber, dass es viele kleine Schritte geben kann, um sich der Wegwerfgesellschaft ein Stück weit zu entziehen. Und dass der Weg nicht mehr so lang ist, wenn ihn viele gemeinsam beschreiten. Raphael Fellmer ist, wenn man so will, eine Hyperbel des Wandels.
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