Bei der Heilung von Süchten sind sich eigentlich alle einig: Man muss dem Süchtigen den Stoff entziehen. Was aber, wenn der Süchtige nicht nach einer Substanz, sondern nach Askese süchtig ist? Wie heilt man die Sucht zum Hungern? Unsere Autorin hat Magersüchtige auf einer psychosomatischen Station besucht.

12:00 Uhr. Essenszeit. Getrübte Mienen in der Schlange am Essenswagen. Eine nach der anderen leiert ihren Namen runter, in der Stimme eine Mischung aus Widerwille und Resignation. Sie gehen in den Raum und stellen das Tablett an ihren Platz. Manche wärmen ihre kalten Hände am Deckel, der den Teller verdeckt. Es scheint wie ein Versuch, ihren Körper durch die bloße Berührung wieder mit Leben zu füllen. Andere wagen den Blick drunter oder schießen das obligatorische Essensfoto. Lisa bekommt ihren Fußtick, wie immer, wenn sie nervös ist und bringt das Wasser im Glas zum Vibrieren, das einzige Glas, das das Essen begleiten darf. Die Blicke wirken besorgt bis mitleidig. Nachdem die Pflegerin gekommen ist und jeder seine Grundstimmung geäußert hat, geht’s los. Ein Blick auf die Uhr: 20 Minuten Zeit zum Essen. 20 Höllenminuten. „Die Hölle, das sind die anderen“, sagt Sartre. „Die Hölle, das sind wir“, denke ich.
Alptraum Essen
Ich besuche die Station für Jugendliche und junge Erwachsene einer psychosomatischen Klinik in Norddeutschland. Neben Depressionen und Borderline-Erkrankungen werden hier auch Essstörungen behandelt. In einer Intensivtherapie sollen die zumeist weiblichen Patienten lernen, einen normalen Bezug zu dem zu bekommen, was sie am Leben hält: das Essen. Die Mahlzeiten gelten somit als fester Bestandteil der Therapie und finden in der ersten Therapiestufe unter Beobachtung einer Pflegekraft statt. Es gibt feste Essensregeln, alles wird protokoliert – für die Patientinnen zunächst ein Alptraum. In der Mittagszeit sind die Methoden, mit der Anspannung umzugehen sehr unterschiedlich. Gesprochen wird wenig, erst recht nicht übers Essen. Manche versuchen es mit dem Wetter, andere haben Kopfhörer in den Ohren. Musik an, Welt aus. Einfach nur den Kopf abschalten und stopfen, nicht drüber nachdenken. aus dem Radio bekundet Justin Bieber „You should go and love yourself“. Na dann.
Magersucht ist keine Modekrankheit
Dabei geht es doch um so viel mehr als um die Anerkennung vom anderen Geschlecht, um Sexyness oder Modelmaße. Es geht um Kontrolle und Disziplin. Um Zerbrechlichkeit und Selbstzerstörung. Anorexie ist das Stiefkind der psychischen Krankheiten, weil es in der Gesellschaft zu oft noch als Produkt der Medien, als oberflächliches Streben nach einem erfundenen Schönheitsideal geht. Dabei sind Magersucht und Schlankheitswahn nicht miteinander zu verwechseln. Denn Schlankheitswahn, das sind Low-Carb, Low-Fat und Fitnessstudio. Magersucht, das sind ausfallende Haare, eine ausbleibende Periode, ständige Kälte und nicht selten auch der Tod. Denn ca. 10 Prozent aller Magersuchterkrankungen enden tödlich. Ursachen dafür sind Mangelernährung, Organversagen oder Suizid. Erschreckend wenn man bedenkt, dass ca. 2 Prozent der deutschen Bevölkerung an einer Essstörung erkranken. Aber was bringt einen Menschen dazu, freiwillig zu (ver)hungern?

Selbstwert durch Selbstkasteiung
Noch immer ist die Magersucht ein wissenschaftliches Rätsel, das sich selbst den Erkrankten häufig nicht erschließt. Es lassen sich keine Regeln erkennen oder allgemeingültige Aussagen treffen, sondern lediglich wiederkehrende Verhaltensmuster und Hintergründe der Erkrankten beobachten. Häufig spielen Minderwertigkeitsgefühle und ein übersteigerter Perfektionismus eine große Rolle. Der Gedanke nur durch Leistung etwas wert zu sein, setzt die Betroffenen unter Druck und führt zu einer allmächtigen und immerwährenden Unzufriedenheit. Sie versuchen diese dann mit den Tugenden unserer heutigen Zeit, Disziplin, Fleiß und Selbstkontrolle, zu beseitigen. Sie sind unersättlich und deshalb hungern sie: Die Askese macht sie zwar körperlich schwach, aber emotional stärker, denn es gelingt ihnen, dem lebensnotwendigen Essenstrieb zu entsagen und der Versuchung widerstehen. In diesem falschen Verständnis von Disziplin sind sie die Besten, was ihnen kurzweilig ein erhöhtes Selbstwertgefühl geben kann. Gleichzeitig hüllt und schützt sie ihre zerbrechliche Erscheinung. Durch ihr Aussehen bringen die Erkrankten eine Verletzlichkeit zum Vorschein, die sie oftmals aufgrund emotionaler Barrieren wie Stolz und Eitelkeit nicht anders ausdrücken können. „Ich hatte Angst vor einem gesunden und starken Aussehen und den Erwartungen, die meine Umwelt damit an mich stellen könnte.“, erzählt Manuela*, 32. Erst nach 15 Jahren mit der Essstörung hat sie sich ihr Problem einstehen und den Schritt in die Klinik wagen können. 15 Jahre der Selbstkasteiung und Selbstzerstörung, die jetzt ein Ende finden sollen.
Eine unheilbare Krankheit?
Tatsächlich ist es jedoch so, dass jeder Tag mit Untergewicht sowohl die Lebens- als auch die Heilungschancen verringert. Mit der Magersucht verhält es sich in diese Hinsicht so wie mit anderen Süchten auch: Umso länger man drinsteckt, umso schwieriger ist es wieder rauszukommen. Der gestörte Umgang mit Essen wird zur Normalität, die Grenzen verschieben sich, der Blick für eine „normale“ Portion geht verloren und führt zur Chronifizierung der Krankheit. Umstritten ist auch, ob die Krankheit überhaupt komplett heilbar ist. Viele Patientinnen erreichen nach der Therapie zwar wieder ein Normalgewicht, Essen bleibt jedoch ein nicht unbefangenes Thema und das Ventil in schwierigen Zeiten. Anders als bei anderen Süchten, lässt sich die Sucht zur Askese nicht mit einem Entzug therapieren. Anstatt ihnen etwas zu nehmen, wie beispielsweise Alkoholikern den Alkohol, muss man sie dazu bringen, das Essen, das sie so sehr verweigern, zu sich zu nehmen.
Das Bedürfnis nach Sicherheit
Ich höre mir gerne die Geschichten der Mädchen an. Sie handeln von Verlusten, Missbrauch, ignorierten Bedürfnissen. Sie zeugen von einer riesigen Angst vor dem richtigen Leben. In dieser sonst so willkürlichen, unüberschaubaren Welt ist die Nahrungsaufnahme was eigentlich ganz einfaches. Es ist ein strukturierter Mikrokosmos im chaotischen Universum. Das Leben ist nicht planbar, Mahlzeiten schon. Liebe kann man nicht zählen, Kalorien schon. Die Zahl der Freunde kann man nicht beeinflussen, die Zahl auf der Waage schon. So lassen sich nicht selten in den Biografien der Betroffenen Traumata entdecken. Neue, überfordernde Situationen wie ein Studienbeginn, ein Jahr im Ausland oder der Verlust eines geliebten Menschen führen zu einem Gefühl des Kontrollverlustes, das durch die überhöhte Kontrolle des Essens kompensiert wird. Als Reaktion auf Machtlosigkeit möchten sie zumindest einer Sache mächtig sein: ihrem Körper, dem Essen und der Zahl auf der Waage.

Die Lüge im Spiegel
Die Krankheit ist so komplex und individuell wie die Betroffenen selbst, und genau das macht sie so schwer zu behandeln. Neben den aufzuarbeitenden Traumata und biografischen Ereignissen wird die Heilung zusätzlich durch die sogenannte Körper-Schema-Störung erschwert. Rebekka erklärte mir diese wie folgt: „Stell dir vor, alle Menschen um dich herum behauptenfelsenfest, du seiest braunhaarig. Du aber guckst in den Spiegel und siehst mit aller Selbstverständlichkeit, dass du blond bist.“ So ähnlich verhält es sich mit der Körper-Schema-Störung, ein Wahrnehmungsfehler, der das Selbstbild der Erkrankten verfälscht. Obwohl sie objektiv wissen, dass sie viel zu dünn sind, können sie das beim Blick in den Spiegel nicht sehen. In der Klinik wird durch verschiedene Übungen die objektive Wahrnehmung wieder geschult. So sollen die Patientinnen zum Beispiel anhand eines Seiles den Umfang ihres Bauches, ihrer Oberschenkel oder Arme schätzen. Anschließend werden die realen Maße genommen sowie Selbst- und Fremdwahrnehmung verglichen. Die Erkenntnis ist erschreckend und gruselig zugleich. „Was macht diese Krankheit mit mir?“, fragt sich Rita auch nach ihrem zweiten Klinik-Aufenthalt immer noch. „Ich kann meinen eigenen Augen nicht trauen.“
Zerreißende Ambivalenz
Selbst wenn die für den Heilungsprozess so essenzielle Einsicht besteht, fällt es den Patientinnen oft schwer, sich von der Krankheit zu lösen. Neben der Macht der Gewohnheit ist da die Sicherheit, die sie ihnen gibt. Sie wird zu einem stetigen Begleiter, zu einem Schatten oder einer Freundin, nicht selten personifiziert und „Ana“ getauft. Sie gibt ihnen viel und raubt ihnen noch mehr. Sie aufzugeben bedeutet jedoch zugleich, einen Teil von sich zu begraben. Der Kampf gegen die Magersucht wird zu einem Tauziehen gegen sich selbst, zu einem Spiel, bei dem es, zumindest für einen kurzen Moment, nur Verlierer geben kann. Ist dieser schmerzvolle Punkt im Heilungsprozess überwunden, wird alles einfacher. Langfristig sind sie Gewinner. Beim Essensritual, das unweigerlich einer Trauerveranstaltung gleicht, denke ich deshalb: „Wohlan denn Herz, nimm Abschied und gesunde.“
*Alle Namen von der Redaktion geändert.
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