Ich fange diesen Text jetzt zum dritten Mal an. Ich fühle mich nicht in der Lage, über etwas zu schreiben, dass mir die Tränen in die Augen treibt und mich mit ohnmächtiger Fassungslosigkeit überrollt. Dass mich so wütend und traurig macht, dass ich gar nichts mehr fühle. In was für einer Welt leben wir eigentlich? Weltweit sind hunderttausende Menschen auf die Straße gegangen, mit selbstgebastelten Plakaten und schwarzen Klamotten. #Blacklivesmatter lese ich überall. Ich frage mich, was es wirklich braucht, um zu verändern.

Vor allem sehe ich es auf Fotos in den sozialen Medien. Man könnte es als Trend beschreiben – die Influencer dieser Welt schauen ernst unter ihrer Atemschutzmaske und filmen erst die Demonstrationen, und dann sich, beim Revolutionieren. Ist es das, Hannah, was du als Geruch von Revolution beschreibst? Ist das die Vision der Veränderung, die sich in geballten Fäusten und Bannern um Fernsehturm und Münster schmiegt? Während das Feuer der Solidarität Sars-Covid-2 in die Ecke drängt, feuert meine Wut eine Schreibblockade nach der nächsten an. Ich bin wütend, dass ich nicht demonstrieren war, weil ich Opfer meiner moralischen Zielkonflikte bin. Virus verbreiten oder Virus bekämpfen? Der entscheidende Faktor für die Wissenschaft ist die Mortalität. Aber was ist tödlicher: Lungenversagen oder Rassismus?
Ein Kampf auf vielen Ebenen
Ich denke in diesen Tagen viel über Nietzsches Herdenmoral nach. Ich kann es nicht fassen, wenn auf sozialen Plattformen Bilder aus Minneapolis geteilt werden – und dann vom bunten Abendessen mit Freunden. Ein Bier auf den Schreck. Kann man sich eigentlich wieder zu zehnt im Park treffen? „So kannst du nicht denken“, sagt mein Freund und ich spüre, wie er meinen Zynismus ablehnt. „Sei doch froh, dass sich die Menschen überhaupt damit beschäftigen.“ Ich schaue ihn wütend an. „So einfach ist das aber nicht“, sage ich, während ich durch den schwarzen Instagram-Quadrat-Feed scrolle. Es ist Dienstag. Ich fühle mich so ohnmächtig. Bewusstsein reicht nicht. Und Bewusstsein hat noch nie gereicht. „Was würdest du dir denn wünschen?“ Mein Freund schaut mich an – wütende Tränenschleier legen sich über meine Augen. „Dass sich wirklich etwas ändert“, schreie ich. Und ich frage mich, ob das jemals möglich ist.
Aufschrei ist punktuell und wird leiser. Aufschrei benötigt Energie und Zeit. Aufschrei ist monothematisch, wenn Krisen zu Katastrophen werden und Aufschrei ist Aufforderung für Veränderung. Das ist das Problem. Veränderung benötigt Zeit, Trends verändern sich schneller, als Aufforderungen in Arbeitsgruppen aufgeteilt werden können. Ich denke an die Geflüchteten im Camp Moria, die immer noch festsitzen. Der Aufschrei zu Beginn der Coronakrise war groß. Heute fragt kaum einer mehr, wie die Lage auf der griechischen Insel Lesbos ist. Für nachhaltige Veränderung braucht es politischen Druck und eine ausdauernde Stimme. Schwarze Quadrate sind wunderbar. Ohne Bewusstsein kein Aufschrei. Aber das reicht eben nicht. Es reicht nicht, demonstrieren zu gehen und sich dann zurückzulehnen im guten Gewissen die Welt verbessert zu haben. Es reicht nicht, diesen Trend mitzugehen, wie es bei Sneakern oder Online-Dating funktionieren mag.
Nach der Demonstration ist vor der Demonstration, weil Revolution im Kopf stattfindet, bevor sie auf die Straßen getragen werden kann. Nach der Demonstration ist vor der Demonstration, weil George Floyd nicht wieder lebendig wird. Und Michael Brown nicht. Und Breonna Taylor nicht. Gegen Rassismus zu sein ist kein Trend. Es darf kein Trend sein! Schwarze Quadrate sind eine Lebenseinstellung, keine Möglichkeit der Selbstoptimierung im altruistischen Inszenierungsmantel!
„Why do they hate us so much?“
Ich habe einige Freunde in den Staaten. Vor zwei Tagen schreibe ich Eric aus New York. Wir haben uns im Januar in Budapest kennengelernt. Er schickt mir eine vierminütige Sprachnachricht zurück. Er schluchzt und ringt nach Worten. „I have never been so scared in my life“, sagt er, dann bricht die Nachricht ab. Er erzählt von Polizisten, die auf friedliche Demonstranten schießen. Er habe eine Verletzung an seinem Bein und Schmerzen in Augen und Lunge, wegen des Tränengases. „I just want my friends to be safe“, sagt er und erzählt von hemmungsloser Gewalt und Hass. „Why do they hate us so much“, sagt er, und meint damit die Polizisten. Die Hüter des Gesetzes. Ich kann in diesen Tagen kaum schlafen. Wie kann es sein, dass Rassismus so tief im System verwurzelt ist, dass er Institutionen unterwandert hat und Menschen umbringt? Martin Luther King hatte einen Traum. Und George Floyd konnte nicht atmen.
Der Afroamerikaner George Floyd wurde am 25. Mai 2020 in Minneapolis, Minnesota, ermordet. Er wurde nicht versehentlich erschossen, was sich makaber liest, in den USA aber durchaus vorkommt – er war auch nicht in einen Streit verwickelt und musste aus Notwehr sterben, noch wurde er Opfer eines Amoklaufes oder Terroranschlags. George Floyd wurde von dem Polizisten Derek Chauvin auf der Straße liegend bei Tageslicht erstickt. Er habe angeblich mit einem gefälschten 20 Dollar Schein bezahlen wollen. Zeugen haben den Vorfall gefilmt, insgesamt vier Polizisten sind auf sämtlichen Videos zu sehen, Derek Chauvin ist dabei die ausführende Kraft, er drückt sein weißes Knie so lange auf Floyds schwarzen Hals, bis dieser bewusstlos wird. Auch dann hört Chauvin nicht auf, der Spiegel berichtete von weiteren 2 Minuten und 48 Sekunden Knie auf Hals. Chauvin wurde erst wegen „third degree murder“ angeklagt – in Deutschland lässt sich das mit Todschlag vergleichen, nicht mit Mord. Die Anklage wurde nun revidiert und als „second degree murder“ wieder aufgenommen. Amerika brennt. Und die BILD-Zeitung titelt, dass der ermordete Mann Corona hatte.

Das weiße Oval-Office Orchester
Donald Trump hält eine Bibel in der Hand, während er über Schutz und Sicherheit spricht. Das Paradox ist kaum zu überbieten – der amerikanische Präsident steht sinnbildlich für die Ambivalenz zwischen Verfassung und Realität. Während er das Feuer über Amerika nicht für die Gerechtigkeit sondern die bevorstehende Präsidentschaftswahl löschen will, verhält er sich inkompetent und gewaltverherrlichend. Er setzte kürzlich das Militär ein, um die zum Großteil friedlichen Proteste zu unterminieren. Er twitterte, dass ‚das Schießen beginnen würde, wenn die Plünderungen begännen“. Ein Mann, der ein Land mit fast 330 Millionen Menschen führt, DARF Gewalt nicht mit Gewalt bekämpfen.
Donald Trump feiert in diesen Tagen den Höhepunkt einer Stringenz, die er seit fast vier Jahren Präsidentschaft verfolgt: er spaltet die Bevölkerung nicht nur, er lässt sie in Wut und Trauer alleine. Das Weiße Haus sieht innen aus wie außen. Weiß. Im Kabinett befindet sich kein einziger Schwarzer. George Floyd ist nur eine Taste auf der Klaviatur des Rassismus. Das klingt so schrecklich wie es ist. Trump spielt dieses Klavier. Die Töne dringen nach außen. Sie werden in Polizeischulen und Kasernen gehört – und plötzlich ist das eine Leben mehr wert als das andere. Und eine ganze Nation summt im Takt.
Die Aufstände zeigen, dass es so nicht ist und dass es Menschen gibt, die damit nicht einverstanden sind. Wir sollten diesen Punkt schon lange überwunden haben. Der Civil Rights Act von 1963 hat die Rassentrennung verboten und eine wirtschaftliche und soziale Benachteiligung. Er hat Schwarzen die Bildungstür geöffnet – und strukturell wieder zugeschlagen, Bildung ist teuer. Fünf Jahre später wurde Martin Luther King ermordet und mit ihm starb der friedliche Widerstand. Ein „es hat sich schon so viel verbessert“ schützt keine Schwarze vor Ausgrenzung, Hass oder Mord. Institutionalisierter Rassismus kann nur dann abgebaut werden, wenn Macht nicht an der falschen Stelle eingesetzt wird. Und das kann nur dann passieren, wenn (staatliche) Institutionen anfangen sich an ihre eigenen Regeln zu halten. Leider hinkt dieser Vergleich. Wie sollen sich Polizisten, die Gealtverherrlichung und Machtmissbrauch strukturell anerzogen bekommen, an Regeln halten, wenn ihr großer Vorgesetzter und Präsident Donald Trump es selbst nicht tut? Donald Trump unterwandert die amerikanische Demokratie und öffnet ein krankendes System damit für Polizeigewalt. Wo sind die Reformen, die Obama nach dem Tod des Teenagers Michael Brown im Jahr 2014 einführte? Ob sämtliche Polizeireviere noch regelmäßig auf systemmische Gewalt und Machtmissbrauch überprüft werden? Ich glaube kaum.
Das binäre System aus schwarz und weiß
Rassentrennung heißt heute Rassismus, die Spuren der Sklaverei finden sich noch immer in mehrdimensionaler Ungleichheit wieder. George Floyd trug das Coronavirus in sich. Das weiß dank BILD-Zeitung nun die ganze Nation. Es wäre schön gewesen, hätte die BILD diesen Gedanken weitergedacht und nicht als hetzerischen Fakt in bunten Farben stehen lassen. George Floyd hatte Corona. George Floyd hat außerdem seinen Job als Türsteher in einem gastronomischen Betrieb in Minneapolis verloren, genauso wie knapp 42 Millionen weitere Amerikaner in der Krise. Hatte George Floyd eine Krankenversicherung? Hätte er sich bei Atemwegsbeschwerden medizinische Versorgung leisten können? Laut der Kaiser Family Foundation haben 11,5% der afroamerikanischen Bevölkerung keine Krankenversicherung (7,5% der Weißen ebenfalls nicht). Gleichzeitig ist das Risiko für Schwarze drei Mal höher, an Corona zu erkranken, als für Weiße. Das liegt vor allem an der allgemein schlechteren gesundheitlichen Verfassung und dem Zugang zu medizinischer Versorgung. Amerika brennt und hat dabei Lungenschmerzen. Und Trump winkt mit der Bibel, die einzige Hiobs-Botschaft, die er sieht, ist die wohl anstehende Briefwahl.
Es gibt noch so viel mehr Beispiele von Ungleichheit. Sie hören weder in Miami noch in San Francisco auf, sie schweben wie kleine Viren über den Pazifik und nisten sich als Vorurteile und Alltagsrassismus in unseren weißen Köpfen ein. Ich bin eine weiße Frau. Ich wurde in Deutschland geboren und ich lebe in Deutschland. Ich kann nicht nachvollziehen, wie sich Alltagsrassismus anfühlt und ich schäme mich für meine Unwissenheit. Ich habe auch schon schwarze Menschen gefragt, wo sie herkommen, also wirklich herkommen, und war irritiert, wenn sie München gesagt haben. Oder Berlin. Oder oder. Ich habe auch schon gesehen, wie Schwarze nicht in einen Club gelassen oder als Einzige im Fernbus kontrolliert wurden. Wie besorgte Weiße die Straßenseite wechseln, weil die Bedrohung dunkelhäutig ist. Es gibt tausende Beispiele von Rassismus und jeden Tag werden es mehr. Schwarz und weiß steht sich hier als binäres System gegenüber, das exemplarisch gut funktioniert, aber realitätsfern ist. Rassismus hört nicht bei der Hautfarbe auf und Rassismus ist nur eine Form des Hasses, die es zu bekämpfen nötig ist. Weil wir letztendlich alle der gleichen Klasse angehören: Mensch.
Aus Gleichheit erwächst Feiheit
Kampf muss nicht gewaltvoll sein – ein kollektiv pazifistisches Feuer, nicht gegen, sondern FÜR etwas, wird irgendwann gehört, davon bin ich überzeugt. Ich frage mich, ob Donald Trump und Derek Chauvin und alle Rassisten dieser Welt nicht sehen, dass die Freiheit des einen NICHT die Unfreiheit des anderen bedeutet. Der Kampf gegen Rassismus bedeutet Freiheit für alle. Und für alle gleichermaßen. Gleichzeitig kann in Ungleichheit niemand wirklich frei sein. Weil wir alle gleich sind!
Ich bin leider überzeugt, dass dieser Kampf noch lange nicht gewonnen ist. Strukturen verändern sich nicht so schnell, wie Menschen erstickt werden. Ich wünsche mir, dass der Aufschrei bleibt und dass Alltagsrassismus nicht erst zu Mord werden muss, um Menschen zu aktivieren. Ich wünsche mir, dass das Feuer der Revolution weiterbrennt. Und dass Donald Trump aufhört, mit Benzin zu löschen. Martin Luther King, was würde er denken, sähe er, was gerade vor sich geht? Ich frage mich, ob er stolz auf den Geist der Revolution wäre. Oder voller Resignation:
I have had a dream. I am Dreaming. I have a dream.
Was denkst du Martin?
INFORMIERT EUCH
Wir alle können gegen Rassismus arbeiten,indem wir bewusst leben und unsere Privilegien hinterfragen.
Es gibt unglaublich viel Informationsmaterial, nutzt das und bleibt nicht an der Oberfläche. Ich war überrascht, wie wenig ich eigentlich weiß.
Seid laut und bleibt laut. Lebt schwarze Quadrate. Seid ungemütlich. Das Leben ist zum Verändern da!
Ich gebe Dir in nahezu allen Punkten Recht, bis auf einen: die US amerikanische Polizei hatte schon lange vor DTJ ein strukturelles Problem das über Rassismus hinausreicht. Das Verhältnis zur Bevölkerung wird mit militärischen Begriffen in den Akademien gelehrt, im Selbstbildnis sehen sich viele Polizisten schon als Soldaten in einem Krieg gegen die Kriminalität der „Kollateralschäden“ fordere. Vor Kurzem erschien dazu ein Gastbeitrag in der Washington Post von P. Skinner, ehemals CIA Operating Officer in Irak und seit knapp sieben Jahren Polizist in seiner Heimatstadt. Skinner hat recht gut zusammengefasst wie Polizeien in den US Bundesstaaten mit dieser Kriegsrhetorik ausgebildet werden und ganz ähnliche Verhaltensmuster einer Besatzungsmacht aufweisen, mit denen das US Militär schon in Irak scheitern musste. Insofern halte ich die Entscheidung, in Minneapolis die Polizei aufzulösen und komplett zu reformieren, für sinnvoll – eben nicht nur um in Zukunft aktiv anti-rassistisch zu sein, sondern auch das Verhältnis Staatsmacht-Bevölkerung komplett neu zu definieren.
LG