Die drei christlichen Tugenden haben es in Deutschland schwer. Der durchschnittliche Deutsche will wissen und überprüfen; selbstlos ist man nur dort, wo man glaubt, es sich leisten zu können. Am schwersten aber hat es die Hoffnung: Auf ihre bleibende Kraft setzen wir weniger als auf die allmächtigen Zahlen des statistischen Bundesamtes. Kurzum: Zwischen der deutschen Mentalität und den Geisteshaltungen des Christentums tut sich ein größer werdender Graben auf.

Glauben contra Wissen. In der Arena der Lebensentscheidungen obsiegt oft letztgenannte Tugend. Glauben erscheint als Widerspruch zum gesicherten Wissen und wird für viele zu einer überholten Denkweise. Man glaubt, den Glauben überwunden zu haben. Dass man sich allerdings auch bei den meisten Aussagen des angeblich Gewussten auf Zeugnisse anderer berufen muss, fällt dabei oft unter den Teppich. Ebenso vernachlässigen wir bei dem allzu oberflächlichen Gegensatz, dass sowohl der Glaube als auch der Wissensdurst derselben menschlichen Sehnsucht entspringen. Früher waren die Menschen frömmer. Das ist statistisch gesehen richtig. Dass aber auch vorangegangene Generationen schon lieber „Wissende“ als bloß „Meinende“ waren, ist ebenso Teil der Wahrheit. Doch der Glaube wird in einer Welt, die sich mehr und mehr aus sich selbst zu erklären und immer neu zu definieren versucht, zum Abenteuer, das dem Denken der Zeitgenossen konträr gegenüber steht.
Entscheidungskirche statt Volksfrömmigkeit
Das moderne Europa hat sich aus den Händen Gottes emanzipiert. Vorbei ist die Selbstverständlichkeit des öffentlichen Geltungsanspruchs der christlichen Religion, wenngleich das Phänomen einer von allen getragenen Volkskirche schon seit Jahrzehnten im Abendrot steht. Selbst gläubige und von einer Volkskirche geprägte Christen empfinden Scham beim Bekenntnis. So ist eine Fronleichnamsprozession in den Augen vieler ein ähnlich skurriler Anblick wie das kniende öffentliche Bekenntnis eines Muslims, der seinen Teppich ausrollt. Das wiederum ist ein Zeichen, dass die sogenannten Volkskirchen im hiesigen Kulturraum offenbar mehr von Tradition und Sitte getragen wurden, als von tiefer persönlicher Frömmigkeit.
Lieben, wen ich nicht kenne?
„Gott ist die Liebe“ – „Stark wie der Tod ist die Liebe“. Die beiden Testamente des Christentums sind voll von Liebesmetaphern, das Christentum gilt wohl auch deswegen als „Religion der Liebe“. Dem durchschnittlichen Deutschen bleiben dabei zwar viele Nuancen dieses großen Wortes verborgen – das Lateinische etwa unterscheidet zwischen caritas, amor und dilectio – dennoch weiß er um seine Bedeutung. Liebe als selbstlose Hingabe für Freunde war der Lebensweg Jesu. Im religiösen Sinn verstanden geht es bei der Liebe um die innere Kongruenz von „lauterem Herzen“ und äußerem Tun. Den Feind lieben, den Nächsten lieben – wie mich selbst. Ihm also nicht nur Gutes tun, weil Gott es so will, sondern weil ich ihn liebe. Das ist ein hoher Anspruch: Das äußere Tun reicht nicht, um ihm Genüge zu tun.
Lieben oder lieben lassen
Weltumspannende christliche Nächstenliebe drückt sich oft im Spendenaufkommen aus. Der Christ weiß, dass der durch Sturmflut in Not geratene Philippino auch einer der zu liebenden Nächsten ist, sein Schicksal lässt ihn nicht kalt. Es wäre verkürzt zu behaupten, die einzige Form der Nächstenliebe bestünde aus Spenden an Menschen in ärmeren Ländern. Allerdings gehört es dazu und es stimmt auch, dass die deutschen Kirchen große karitative Institutionen sind. Die Frage aber, ob das an der liebenden Warmherzigkeit ihrer Mitglieder oder am Automatismus der einbehaltenen (Kirchen)steuer liegt, muss man an dieser Stelle stellen dürfen. So kann auch der hochinstitutionalisierte Sozialstaat zwischen persönlichem Liebesdienst und den Bedürftigen eine Barriere bilden. Warum sich für einen Obdachlosen Zeit nehmen, in einem Land, in dem vermeintlich keiner hungern oder frieren muss?
Erhoffen, was man nicht kennt?
„Unsere Hoffnung für euch steht fest.“ Dieses Wort des Völkerapostels Paulus übernahm der emeritierte Kölner Erzbischof Joachim Kardinal Meisner sich zum Wahlspruch. Wissen die Christen, worin ihre Hoffnung besteht? Kant sagt, die Religion antworte darauf, was „ich hoffen darf“. Und worauf? Die bleibende Hoffnung der Christen auf ein „Jenseits“, das dem „Diesseits“ gegenübersteht, trägt nicht jeden in seiner Sinnsuche. Das Neue Testament spricht an vielerlei Stellen vom so genannten Reich Gottes, einer Herrschaft des Friedens und der Gerechtigkeit. Wie dieses aber aussieht, darüber haben wir nur gleichnishafte Kenntnis.
Deutschland, Deine Statistiken
Deutschland ist ein Land der Statistiken und Prognosen. Wo Wahlergebnisse von statistisch erhobenen Umfragewerten abweichen, ist das bei aller Liebe zur Souveränität des Wahlvolkes für manche oft ein Grund gleich das System in Frage zu stellen. Auch ohne Planwirtschaft werden zukünftige Steuereinnahmen und das Wirtschaftswachstum des kommenden Jahres präzise im Voraus ermittelt. Warum also auf Hoffnung setzen?
Die Hoffnung passt nicht zu uns
Warum nur existiert keine Video-Aufnahme von der Auferstehung Christi? Wieso soll ich persönlichen Einsatz zeigen, wenn Kirchen und soziale Institutionen jegliche Nächstenliebe besser vollziehen als das Individuum? Was nützt die Hoffnung auf ein nicht näher bestimmtes und möglicherweise jenseitiges Reich, wenn ich alle wirtschaftlich und politisch relevanten Zahlen im Voraus kenne?
Der Glaube erweist sich auf allen Ebenen als Wagnis. Die Abenteuerlust aber überlassen wir am liebsten der B-Prominenz, wenn diese sich durch exotische Dschungel kämpft und Käfer frisst. Der bürgerlichen Existenz begegnet das Christentum einerseits mit großer Offenheit und einer weitgehend ähnlichen Traditionsgeschichte, aber auch mit einem unüberwindbar hohen Anspruch. Glauben heißt Vertrauen – und Vertrauen ist bekanntlich gut, während jedoch Kontrolle besser ist. Ob aber ein ständiges Kontrollieren und Überwachen auf Dauer die bessere und seligmachendere Lebensform ist, muss erst bewiesen werden.
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