Die Jahresrückblicke sind in diesem Jahr grau und tragen Mund-Nasen-Schutz. Es scheint, als wäre nichts passiert: 2020, das Corona-Jahr. Diese Tristesse hat kein Gespür mehr für das Schöne, das Innovative, das Gute. Aber das gibt es auch und viel mehr, als wir denken. Wir müssen nur hinschauen – zu den guten Nachrichten 2020.

Hör Dir hier den Podcast an. #Eingebüxt, Folge 8, kannst Du hier starten:
Zoomige Zwischenmenschlichkeit
Es war ein furchtbares Jahr, mag man meinen. Die Foto-Galerie 2019, leer. Außer ein paar Schnappschüssen mit Mund-Nasen-Schutz – und im Sommer ein paar ohne, im Park, mit Freunden, da ging es ja noch, ach ja, der Sommer. 2020 war kein leichtes Jahr, die Corona-Pandemie sitzt uns allen schwer in den Knochen – und mit allen lässt sich wohl die ganze Welt einschließen. Anstatt über Osterlamm und Sommerurlaub haben wir uns in diesem Jahr über Inzidenzzahlen und Reproduktionswerte unterhalten. Weil offline weniger möglich war und ist, hat sich unser aller Leben ein Stück mehr in die Online-Welt verlagert. Hier können wir uns auch ohne Mundschutz begegnen.
Und nach dem zehnten Mal ist es auch gar nicht mehr so schlimm, morgens bei der Vorlesung noch seine Schlafanzugshose zu tragen und sein eigenes müdes Gesicht in der rechten Ecke des Bildschirms anzustarren. Selbst Oma beherrscht jetzt Skype und Zwischenmenschlichkeit hat in diesem Jahr an Tiefgang gewonnen. Wenn nichts passiert – scheinbar nichts passiert – dann ist es unausweichlich, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Das kann schmerzhaft sein und Narben zu Wunden werden lassen, die nur die Verdrängung heilte. Während einige von uns Kontaktpersonen sind, andere an Covid-19 erkrankt und weitere in sorgenvoller Selbstisolation leben, heilen wir als Gesellschaft, weil wir uns darauf zurückbesinnen müssen, was wirklich wichtig ist.
Teil eines Ausnahmezustandes
Das Coronavirus verlangt von uns physischen Respekt – Abstand halten und Unbekannte schützen. Wir sind uns weniger nah mit den meisten, dafür umso näher mit wenigen. Beziehungen werden intimer, wenn sie plötzlich etwas Besonderes sind. Sie waren es schon immer, jetzt fällt es uns aber auf. Zwischenmenschlichkeit im Speziellen und menschliche Beziehungen im Allgemeinen sind etwas Zauberhaftes. Sie sind ein Geschenk und machen uns zu fühlenden Wesen. Wir alle vermissen Nähe am meisten, so nehme ich das zumindest wahr. Vielleicht ist es die große kollektive Erkenntnis eines besonderen Jahres, dass wir gelernt haben, was wir nicht missen möchten: Unseren Liebsten nah zu sein. Und dass diese Nähe nicht nur ein psychisches, sondern auch ein physisches Bedürfnis ist.
Dass 2020 ein geschichtsträchtiges Jahr gewesen ist, wurde spätestens nach dem zigsten Vergleich mit der spanischen Grippe offensichtlich. Die Welt im Ausnahmezustand – und wir sind dabei. Ausnahmezustände verändern sich, so wie sich die Zeit verändert: Vor 76 Jahren landeten die Alliierten in der Normandie, vor 106 Jahren erklärte Österreich-Ungarn Serbien den Krieg. Ausnahmeereignisse. Bei der Spanischen Grippe sind vor knapp 100 Jahren über 25 Millionen Menschen gestorben. Ausnahmeereignis. Die ARD drehte vor ein paar Wochen einen Videoclip, der vor allem junge Menschen, offensichtlich müde von der Monotonie des Corona-Alltags, dazu ermutigen sollte, zu Hause zu bleiben. Der Clip spielt in der Zukunft, ein alter Mann erzählt vom Krieg. „Und alles, was wir tun mussten war….“ – theatralische Musik -…. „zu Hause bleiben.“ Diese Pandemie ist kein Krieg und ich finde es gefährlich, sie so zu betiteln. Ein Euphemismus, nur im Gegenteil. Wie nennen wir denn das, was gerade im Gazastreifen passiert oder in Syrien oder in Afghanistan?
Viel Gutes, viel Neues, viel Aufregendes
Dieser Gedanke lässt sich gut und leicht in die Negativ-Schublade stecken. Nicht nur von Pessimisten, auch alle anderen wünschen sich zurück, was sich in anderen Jahren so gut verteufeln lässt: Die Normalität. Über das Gute an der Krise lässt sich streiten. Es gibt aber genug Dinge, über die es sich zu streiten nicht lohnt, über die man sich nicht aufregen kann und die selbst dem pessimistischsten Pessimisten einen Anflug von Freude entlocken. 2020 hat viele schöne Dinge hervorgebracht, viele Innovationen und neue Möglichkeiten, gesellschaftliche Weiterentwicklung, Solidarität und viele erste Male.
In den Vereinigten Staaten ist der Mann abgewählt, der so vielen Menschen, so vielen Minderheiten das Leben unerträglich gemacht hat. Der die Weltgemeinschaft herausforderte und so viele Grenzen überschritt, dass sie kaum messbar sind. Die Twitter-Diplomatie wird Anfang Januar ein Ende haben und mit ihr werden alternative Fakten verschwinden und die amerikanische Gesellschaft bekommt die Chance, wieder ein Stück näher zusammenzurücken.
Kamela Harris ist die erste Vizepräsidentin, die erste BPOC-Vizepräsidentin, die erste BPOC-Vizepräsidentin mit indischen Wurzeln. In Vietnam wurde der Handel mit Wildtieren verboten. Eine Antwort auf die ungeklärten Ursprünge des Wirts des Coronavirus, mutmaßlich eine Fledermaus, auf dem Wildtiermarkt in Wuhan. Im Great Barrier-Reef wurden so viele grüne Meeresschildkröten gezählt, wie noch nie, über 60.000, damit ist diese Art nicht mehr vom Aussterben bedroht. Die Weltgesundheitsorganisation hat verkündet, dass fast alle Kinder unter fünf Jahren gegen Hepatitis geimpft sind. Bis 2030 soll die Krankheit ausgerottet sein. Im Sudan wurde die Genitalverstümmlung verboten.
In Costa Rica die Ehe für alle erlaubt. In Kuba hat das erste gleichgeschlechtliche Paar ein Kind adoptiert und die EU hat die Klimaziele für 2050 verschärft. Ab 2023 dürfen in Neu-Dehli nur noch Elektro-Rikschas fahren und in Großbritannien dürfen schwule Männer jetzt Blut spenden. Der Berliner Friedrichstadtpalast steht als letzter Prachtbau der DDR jetzt unter Denkmalschutz und der See Genezareth ist nicht mehr vom Austrocknen bedroht. Das EU-Parlament hat neue Richtlinien beschlossen, in denen festgelegt wurde, dass allen Menschen innerhalb der EU der Zugang zu sauberem Trinkwasser gewährt werden soll und in Hebborn, Bergisch-Gladbach, lernt eine ganze Grundschulklasse Gebärdensprache.
Ein Blick für das Schöne
Das ist nur ein Bruchteil der Dinge, die 2020 ebenfalls gebracht hat. Ereignisse, die zu Nachrichten wurden und untergegangen sind, irgendwo zwischen Intensivbetten-Belegung und Querdenker-Demos. In jeder Krise stecken Chancen, Manchmal muss man sie länger und gründlicher suchen. Manchmal sind sie ganz offensichtlich, wenn man sich traut, hinzusehen. Es werden immer wieder Krisen kommen. Auch wenn die nächste Pandemie noch ein paar Jahre auf sich warten lässt, wird es etwas anderes sein, dass unseren (persönlichen) Plan des Lebens durchkreuzt.
Wir können uns nicht vor der Ungewissheit des Lebens schützen und je stärker wir es versuchen, umso wahrscheinlicher scheitern wir. Vielleicht hat uns die Coronakrise gelehrt, Dinge, die wir nicht ändern können, anzunehmen und Vertrauen zu haben. Dieses Jahr ist für mich das Jahr der Wissenschaft. Ich finde es unglaublich, wie schnell global eine Lösung gefunden wurde und wie sehr versucht wird, diese Lösung so zu verteilen, dass alle etwas davon haben. Ein Impfstoff ist kein Wundermittel. Aber er hilft zurückzugewinnen, was uns so sehr fehlt: Der Blick für das Schöne – was auch immer das für jeden Einzelnen von uns bedeuten mag.
Christina Lopinski und Corinna Koch sind gemeinsam #eingebüxt. Sie sind junge Medienmacherinnen Anfang zwanzig, die finden, dass es an der Zeit ist für etwas frisches Blut in der Medienbranche. Deshalb führen sie ihren Podcast in Eigenregie durch, diskutieren gesellschaftliche Probleme und persönliche Fragestellungen. Eben all die Themen, die die Generation Twentysomething beschäftigen. Gemeinsam mit f1rstlife gestalten Chrissi und Coco in eingebüxt ihre Vision eines weiblichen, jungen Journalismus – zu hören bei Spotify, Apple oder Google Podcast.
Schreibe einen Kommentar