Herr Wiest, warum haben Sie sich im Alter von 80 Jahren noch auf das Risiko Kilimandscharo eingelassen?
Den Gipfel des Kilimandscharo zu erklimmen war schon viele Jahre mein Traum. Eigentlich wollte ich die Tour zusammen mit meinem Schwager aus Johannesburg antreten, aber die Zeit verging, wir fanden keinen günstigen Termin und dann hatte mein Schwager einen Herzinfarkt. Mein größter Wunsch schien auf Eis gelegt, bis meine Frau und mein Sohn mich an meinem 80. Geburtstag mit der Reise auf den afrikanischen Gipfel überraschten.
Was hielten Ihre Familie und Freunde von den Plänen?
Meine Frau und mein Sohn wussten, dass die Reise mein größter Wunsch war, sonst hätten sie mir das Geschenk nie gemacht. Ich war in meinem Leben viel in den Bergen und hatte genug Erfahrung und Ausdauer. Auch von meinen Bergsteigerfreunden bekam ich ausschließlich Zuspruch. Mit meinem Alter hatte niemand ein Problem, denn jeder wusste, dass ich fit genug für die Klettertour bin und es meistern kann. Der Kilimandscharo ist für jeden eine Herausforderung, egal in welchem Alter.
80 ist ein hohes Alter, mussten Sie sich aus Sicherheitsgründen vielen ärztlichen Tests unterziehen?
Vor einer Reise zum 5.895 Meter hohen Gipfel ist ein ärztlicher Check-up unumgänglich, doch der fiel positiv aus. Natürlich habe ich zusätzlich angefangen, meinen Körper an die Bewegung zu gewöhnen. Nach Weihnachten 2009 lief ich täglich vier bis sechs Stunden ohne Unterbrechung. Nebenher ging auch schon die Planung der Tour los. Insgesamt gibt es sechs Routen, die auf den Gipfel des Kilimandscharo führen. Ich entschied mich für die kürzeste Route – die Marangu Route.
Warum haben Sie sich dann trotzdem für die kürzeste Route entschieden?
Auf der Marangu Route ist man sechs Tage unterwegs. Vier zum Gipfel und zwei zurück. Die Route unterscheidet sich von den anderen Routen darin, dass man in Hütten übernachtet. Zelten wäre in meinem Alter nicht in Frage gekommen. Deshalb war für mich klar, diese Route soll es sein.
Wie kann man sich eine Hütte auf dem Weg zum Kilimandscharo vorstellen?
In jeder Schlafhütte können vier Mann übernachten. Meine Hütte habe ich mit meinem Partner aus Wien geteilt. Neben den Schlafhütten gibt es Hütten, die als Speisesaal dienen. Die Träger zelteten um die Hütten herum. Da alle Teams, die auf den Hütten übernachten, denselben Rhythmus haben, wird man nicht durch andere geweckt.
Mit was für einer Truppe waren Sie unterwegs? Störte es jemanden, dass Sie bereits so alt waren?
Mit meinem Alter gingen die Einheimischen ganz gelassen um. Sie freuten sich, dass Sie einen 80-Jährigen auf der Tour begleiten durften. Für unser Gepäck wurden uns sechs Träger bereitgestellt. Dann hatten wir noch einen Koch und natürlich die wichtigsten Personen, den Bergführer und seinen Assistenten. Unsere Mannschaft war hilfsbereit und gab uns in jeglicher Situation Ratschläge.
Ist man als 80-Jähriger ein außergewöhnlicher Tourist auf dem Weg zum Gipfel?
Vor Beginn der Reise fühlte ich mich besonders. Am Eingang zum Kilimandscharo Park schauten die Beamten drei Mal verwundert auf meinen Pass. Niemand glaubte, dass ich mich mit 80 noch auf den Gipfel wage und ich erfuhr, dass ich der erste war, der es in diesem Alter versuchte. Auch auf dem Weg schienen alle über mein Alter Bescheid zu wissen. Ständig bekam ich „Good Luck“-Zurufe von allen Seiten.
Waren Ihre Tagesetappen anders aufgebaut, als die von jüngeren Bergsteigertruppen?
Nein, wir beschritten die üblichen Tagesetappen. Am ersten Tag durch den Regenwald und dann in den nächsten zwei Tagen weiter nach oben, bis zu der sogenannten Horombo Hütte auf 3.720 Metern. Am dritten Tag wurden wir zur Akklimatisierung an die Höhenluft auf 4.200 Meter geführt und gingen am selben Tag wieder zurück zur Horombo Hütte. Ich hatte trotz meines Alters mit den Etappen keinerlei Probleme. Unser nächstes Ziel sollte die Kibo Hütte auf 4.700 Meter sein. Leider musste mein jüngerer Gefährte Peter wegen Höhenluftproblemen an dieser Stelle die Reise abbrechen. In der vierten Nacht brach ich mit meinem Bergführer Seraphine und einer Stirnlampe auf dem Kopf zum Gillman’s Point, dem Höhepunkt, auf. Nachdem der Gipfel erreicht war, ging es innerhalb von zwei Tagen wieder zurück ins Tal.
Sie waren nur noch zu zweit unterwegs? Haben Sie als Ältester die anderen abgehängt?
So kann man das nicht direkt sagen. Das Begleitteam geht nicht mit auf den Gipfel, nur die Touristen und der Bergführer. Wir benötigten nur sechseinhalb Stunden zum Gipfel und wieder zurück zur Kibo Hütte. Der Tag war eine große Herausforderung. Punkt Mitternacht starteten wir auf den Gipfel, um dort den Sonnenaufgang zu erleben. Wir hatten einen klaren Vorteil, da wir nur zu zweit unterwegs waren, konnten wir uns unser Tempo selbst einteilen. Als wir auf dem Gipfel waren, meinte mein Bergführer, dass er noch nie mit jemandem so schnell auf dem Gipfel und wieder zurück an der Kibo Hütte war. Das lag sicher an meinem schnellen Abstieg. Wir nahmen nicht wie gewöhnlich den serpentinenreichen Weg, sondern rutschten auf den Versen im Kies den Berg hinunter. Es war wie in meiner Jugendzeit.
Gab es Zeitpunkte, an denen Sie am liebsten aufgegeben hätten?
Jeden Morgen steht man mit Ungewissheit auf und fragt sich selbst: Werde ich den Tag meistern können? Diese Anspannung spürt man bei allen Teilnehmern. Jeder hofft, dass die folgende Etappe nicht die letzte sein wird. Ich konnte mich immer wieder aufrappeln und wusste, dass ich es schaffen kann. Nur der Abstieg war mit meinem Alter sehr anstrengend. 40 Zentimeter hohe Treppenstufen waren zu bewältigen, dafür benötigte ich Stöcke. Während der ganzen Reise hatte ich keine Blasen an den Füßen, nur an den Händen, wegen den Stöcken.
War es im Nachhinein, trotz Blasen an den Händen, die richtige Entscheidung, die Reise zu bestreiten?
Nach meiner heutigen Erfahrung weiß ich, dass ich es geschafft habe, weil ich locker geblieben bin. Durch meine jahrelange Erfahrung habe ich gelernt, richtig zu gehen und meine Energie einzuteilen. Ich bin froh, dass ich das eindrucksvolle und riskante Abenteuer eingegangen bin, würde es aber nicht noch einmal machen. Ich habe noch nie zuvor gespürt, dass der Körper so überfordert sein kann.
Wie haben Sie diese Überforderung gespürt?
Am Tag nach dem Abstieg lag ich im Bett und fühlte mich so kraftlos, wie nie zuvor. Ich brauchte zwei Tage Erholung, um Kraft zu tanken. Ich glaube, dass es den meisten Reisenden nach der Route ähnlich geht. Man erreicht das Kraftlimit des Körpers. Meiner Meinung nach muss man während der Tour immer zuversichtlich sein. Denn Zuversicht benötigt man im ganzen Leben, um Probleme und Hindernisse bewältigen zu können.
Was waren die eindrucksvollsten Erlebnisse, die Sie noch heute an Ihre Reise denken lassen?
Sehr prägend war der erste Abend, als ich an einem Krater in der Nähe der Mandara Hütte war und bereits die Silhouette des Kilimandscharo sehen konnte. An dieser Stelle habe ich gejodelt und meine zwei Bergführer waren total begeistert. So etwas hatten sie noch nie in ihrem Leben gehört und fortan musste ich immer jodeln, wenn uns auf dem Weg zum Gipfel Freunde oder Verwandte der Bergführer begegneten. Meinen letzten Jodler wollte ich auf dem Gipfel probieren, wegen des Sauerstoffmangels hat es aber nicht geklappt.
Herr Wiest, das macht Ihnen in Ihrem Alter so schnell keiner nach. Vielen Dank für das Interview!
Helmar Gröbel
Sehr gute Fragen und entsprechende Antworten. ich konnte jedes Wort von Ernst nachempfinden , da ich im Januar 23 mit 72 Jahren die gleiche Route ging . für mich war der Aufstieg sehr emotional. Dazu habe ich ein kleines Buch geschrieben Für meine Kinder und Enkel. Der Anlass für den Aufstieg waR ein bestimntes Motiv. Danke für das Interview!