Emotionen sind ein Sprachrohr für unser Innenleben. Sie schwappen mal über, mal scheinen sie meilenweit weg zu sein. Für den einen sind sie die Welt, für den anderen nur ein Teil davon. Sie malen unser Leben bunt und eine davon nimmt es tatsächlich wörtlich und zaubert ein leuchtendes Tomatenrot ins Gesicht. Nicht immer so angenehm, oder?

Wer bin ich? Rate mal. Ich komme meistens zu einem ungünstigen Zeitpunkt, dann, wenn mich keiner haben will. Daher werde ich umgehend wegedrückt. Aber so schnell lasse ich mich nicht abwimmeln. Nein, ich bin kein anonymer Anrufer mit unterdrückter Nummer, vielmehr ein kostenloses Rouge für Mann und Frau. Manche Menschen haben viel von mir und manche Leute sollten mehr von mir haben. Die sollten sich mal schämen! Ups, jetzt hab ich es verraten. Ich schäme mich fürs Verplappern. Gestatten, Scham ist mein Name.
Aber wer bist du?
Spontan denke ich an eine Situation, die ich als peinlich einstufe und Scham empfinde. Aber was ist peinlich? Der Duden versteht darunter körperliche und seelische Qualen oder Unbehagen. Das ist ja interessant. Angenommen, ich kaufe in einem Supermarkt eine Glasflasche Milch und lasse sie leider beim Bezahlen auf den Boden fallen. Wahrscheinlich wäre die ideale Vorstellung nun: „Boden auf, Sarah rein, Boden zu. Ich war nie hier.“ Die Realität ist leider, dass ich mit feuerroten Backen und aufgerissenen Augen wie ein angewurzelter Baum dastehe in der Unfähigkeit, einen klaren Gedanken zu fassen.
Es bleiben mir nur drei Möglichkeiten: fliehen, kämpfen oder erstarren. Ich wähle die Erstarrung. Wegrennen kann ich nicht ohne Bezahlung und Kampf erscheint mir zu brutal direkt nach meiner Milchaktion. Die Menschen in der Schlange starren mich an. Ein Paar schaut auf die Uhr, eine Frau zieht ihren kleinen schreienden Sohn zurück. Ich bewerte diese Situation als Kontrollverlust und Unsicherheit. Das Gefühl ist hier mit Sicherheit, unter der Wut liegend, Scham. Der somatische Marker, das Körperempfinden, ist das äußerliche Erstarren mit einem Puls von 180 und Gehirnbefehle wie „Parasympathikus: unbedingt für Ruhe sorgen. Der Parasympathikus bitte eintreten“. Die Seele ist irgendwie ins Nirgendwo gedriftet. Der Kassierer ruft eine Putzdame und ich bezahle schnell den Rest und verlasse den Markt. Die Situation nach dem Aufprall der Gasflasche nehme ich nur noch wie im Film wahr. Hastig verlasse ich den Markt. Erstmal weg hier. Puh, war das peinlich!
Gut zugegeben, das war eine fiktive Situation. Aber warum sollte sie sich nicht so abspielen? Natürlich variiert das Innenleben von Menschen nach Intensität und Erleben. Ebenso hat jeder eine andere Schwelle für die Auslösung von Scham. Was bei dem einen schon Unbehagen bewirkt, ist bei dem anderen noch ein flüchtiges Abwinken: „Was soll‘s? Passiert doch jedem mal. Ist ja nur Milch. Und die Putzdame ist fürs Putzen zuständig.“
Ab in die Plauderkiste – was hast du Peinliches erlebt?
Etwa ins Becken gesprungen mit wegfetzendem Bikini, mehr das Eis auf dem Schoß des Sitznachbarn gegessen als in der eigenen Waffel? Der Stolperer über den zu niedrig eingeschätzten Bordstein, im Supermarkt die Preise zuvor nicht richtig addiert und zu wenig Geld beim Bezahlen gehabt? Ein Versprecher, der für einen hemmungslosen Lacher sorgte, aber dir einen innerlichen Niedermacher bescherte? Wenn ich diese genannten Situationen im Kopfkino anschaue, stelle ich fest, wie oft ich einfach nur lachen muss. Scham ist wie ein Dampfkochtopf. Es baut sich sehr viel Druck auf und ein Ventil wird benötigt.
Schallendes Lachen ist das Ventil nach außen und wir können wieder durchatmen. Kennt ihr losprustendes Lachen, einfach weil gerade die innerlichen Emotionen überschwappen? Oh, da musste ich mich schon kräftig am Riemen reißen. Ich erinnere mich an Fernsehsendungen wie Ups, die Pannenshow. Allerdings wusste ich hier nie so recht, was ich davon halten soll. Wie dem auch sei, lache ich gerne über mich selbst, beispielsweise als ich in einem intensiven Gespräch mit einer Person ein Hinweisschild übersah und mein Kopf eine Begegnung mit diesem hatte. Mensch, die andere Person hätte mich auch warnen können. 😀
Blicken wir der Scham nun tiefer ins Auge
Okay, das waren jetzt alles gesunde Formen von Scham. Alltagspatzer, die einen kurzen Lacher und keine weiteren Folgen haben oder Raum einnehmen. Scham schützt uns in der Öffentlichkeit davor, nackt auf der Straße umher zu rennen. Oder spornt uns vielleicht zu gewissen Leistungen an. Ich möchte in einer Prüfung die Fragen der Prüfer nicht unzureichend beantworten. Antizipiere ich diese Situation in meinem Kopf, lerne ich lieber davor. So erspare ich mir die Schamesröte in meinem Gesicht. Allerdings kommt nun der mich traurig stimmende Teil an der Emotion Scham. Zum einen tun Menschen selbst Schamauslösendes, zum anderen werden sie aber auch bloßgestellt (zumindest fühlen sie sich bloßgestellt) und empfinden Scham. Hier werden Intimsphären von Menschen überschritten, tiefe Verletzungen vollzogen. Ein schambehaftetes Leben beginnt.
Sag mal, lebe ich eigentlich in einem Gefängnis?
Ich habe mich gefragt, was hinter der Scham steckt. Könnten andere Emotionen, ungelöste Konflikte oder manifestierte Grundüberzeugungen dafür verantwortlich sein? Was erzeugt überhaupt Scham? Betrachtet man das obere Milchbeispiel, frage ich mich, ob ich den Anspruch hatte, dass mir niemals (gesellschaftlich) unerwünschte Handlungen passieren dürfen. Ich muss immer korrekt sein, darf nicht auffallen, niemandem zur Last fallen, niemanden erbosen, nirgends anecken. Auch habe ich die Überzeugung, dass andere Menschen Fehler machen dürfen, nur ich nicht. Ich habe nicht die Erlaubnis dazu, ich habe es nicht verdient. Hier bringt Scham die oben genannte Erstarrung. Ich werde handlungsunfähig. Mein Körper und meine Seele befinden sich in einem Ungleichgewicht, weil ich der Meinung anhänge, nur im makellosen Zustand erwünscht zu sein.
Spinnen wir das Ganze einmal weiter. Was ist, wenn mein Leben auf Scham beruht? Schuld und Scham werden häufig zusammen erwähnt. Dabei erfolgt die Abgrenzung, dass Schuld eine übertretene, nicht korrekte Handlung beinhaltet und man sich zum Beispiel entschuldigt und gut ist es. In meinem Milchbeispiel fühle ich mich schuldig für die Tat, aber Scham für mich als Mensch. Somit hat Scham ein höheres Ausmaß. Sie betrifft die Existenz, mein Sein. Darf ich so sein, wie ich bin? Darf ich überhaupt auf der Welt sein? Wer gibt mir die Erlaubnis dazu?
Wer wird häufig(er) vom ungebetenen Gast namens Scham besucht?
Ich bemerke eine niedrige Reizschwelle für Scham bei Menschen, die abhängig von der Meinung anderer Menschen leben. Die wie ein gestricheltes Strichmännchen gezeichnet sind und zusammenbrechen, falls ein unangenehmes, verletzendes Feedback kommt und damit ihr abhängiger Wert oder ihre Selbstdefinition flöten gehen. Wie kam es zu diesen Strichelungen? Wahrscheinlich kennzeichnet sich ihre Biografie durch viele Unsicherheiten und zahlreichen Verletzungen und Enttäuschungen. Ein instabiles Umfeld, traumatische Erlebnisse, Verlassenheit, Zusammenbrüche, Grenzüberschreitungen? So konnte sich kein natürliches positiv-stärkendes Selbstbild entwickeln und auch keine Vorstellung davon, wo (m)ein Sein beginnt und endet. Dadurch fallen auch Abgrenzung und kritische Distanz schwer.
Ja und jetzt?
Reflektiere ich mein eigenes Leben, zähle ich lieber nicht die häufigen Begegnungen mit der Scham. Irgendwann hatte ich sie so satt, denn die Konsequenzen wurden mir „zu blöd“ und ich war bereit für eine Veränderung. Die Veränderung stellte das kleinere Übel dar. Ich begann damit, meine Überzeugungssätze zu entlarven, sie überhaupt ans Licht zu bringen. Wovon bin ich überzeugt? Dass ich keine Fehler machen darf? Dass ich durch Leistung überhaupt zähle? Dass ich keine Bedürfnisse haben darf, geschweige denn sie einer Äußerung bedürfen? Danach nahm ich jeden einzelnen Gedanken auseinander wie beim Fische ausnehmen und dabei denke ich gerade an die Fischgrätenmethode. Welche Ursache führt zu welcher Wirkung? Warum denke ich so und was löst es aus? Huch, das war ein Quantensprung für mich. Im Anschauen und An-sich-heran-lassen (Akzeptanz) werde ich reif, um loszulassen. Ich kann nichts loslassen, was ich nicht kenne und überhaupt loshaben möchte. Ein Prozess der Reinigung und ein Loslassen von falscher und ungesunder Scham werden ermöglicht, ebenso wie der Anfang von tieferen und stabilen Beziehungen.
Und sonst so?
Die Erwartungen an andere, dass sie mich zum Beispiel definieren müssen, hat ein Ende und ich lebe in einer bisher nicht gekannten Freiheit. Ich gebe es auf, in andere ein Bild von mir zu legen, das sie von mir haben müssen. Ich muss nicht gemocht werden, um mich wohl zu fühlen. Ich kann bei einer Gruppensportart mitspielen, auch wenn ich völlig untalentiert bin und mich nicht blamieren will, einfach der Freude halber. Nicht weil ich Anerkennung ernten muss.
Alles in allem denke ich, ist es ein lebenslanger Prozess, der immer wieder ein Anschauen, Annehmen, Überprüfen, Loslassen oder Behalten abverlangt. Aber ist es mir das nicht wert? Mit ungesunder Scham in der Welt herumzurennen, vereinsamt und schlägt sich nicht nur in seelischer Dysbalance nieder, sondern auch auf körperliches Leiden, wie wir von der Schamdefinition nach Duden gelernt haben.
Last but not least – was hältst du von dem Ganzen?
Vielleicht hast du noch nie richtig über Scham nachgedacht und es war für dich nicht nötig, weil deine Schamschwelle einiges bedarf, um überhaupt erreicht zu werden. Vielleicht haben dich aber auch meine Zeilen angesprochen und du beginnst mehr darüber nachzudenken. Wie dem auch sei, interessiere ich mich für deine Erlebnisse mit Scham und deinen Umgang damit. Schreib doch gerne einen Kommentar. 🙂
Schreibe einen Kommentar