In jedem Bundesligastadion können Sehbehinderte live am Ball sein. Dank Blindenkommentatoren. Initiiert wurde das 1999 beim Spiel Bayer Leverkusen gegen SSV Ulm und abgeschaut haben es sich die Leverkusener in England, wo sie zum ersten Mal erfahren haben, was es mit dem Blindenkommentar auf sich hat. Ein Besuch in Leverkusen 15 Jahre nach der Einführung des Blindenkommentars in der Bundesliga. Von Jonathan Ponchon.

„Eins, zwei, eins, zwei, könnte ihr mich alle hören? Gerd, du auch?“ Soundcheck vor dem Spiel Bayer 04 Leverkusen gegen VfB Stuttgart. Björn Nass überprüft, ob ihn all seine Zuhörer hören können, denn sonst bekommen sie nichts vom Spiel mit. Denn nicht alle Gäste im Stadion können das Spiel mit den Augen verfolgen. Die Gäste im Blindenblock der BayArena sind auf den Livekommentar von Björn Naß, den sie über Kopfhörer wahrnehmen und der mit ihnen in einer Reihe sitzt, angewiesen. Gerd Stoll ist einer dieser Zuhörer. Seit 1999, dem Jahr in dem Bayer 04 Leverkusen als erster Bundesligaverein die Hörreportagen für Sehbehinderte eingeführt hat, hat er kaum ein Spiel verpasst. Die verpassten Meisterschaften und Champions-League-Nächte gegen Manchester United und dem FC Barcelona hat er dank Björn und seinen Kollegen wahrgenommen. Gelegentlich unternimmt er auch Auswärtsfahrten, denn inzwischen bietet jeder Bundesligaverein Blindenreportagen an.
Björn hat einen erheblichen Teil dazu beigetragen, dass das so ist. Als bundesweiter Leiter des Sehbehinderten- und Blindenreportagezentrums des AWO-Bundesverbandes in Aachen gibt er Lehrgänge, um neue Reporter anzulernen und bespricht mit den Vereinen nötige Infrastrukturmaßnahmen. Dabei war nicht jeder Verein auf Anhieb begeistert, blinden Fans das Stadionerlebnis zu ermöglichen. So argumentierte ein Fanbeauftragter eines Vereins im Südwesten der Fußballlandkarte, dass es in der Region gar keine Sehbehinderten gäbe. Doch solche Denkmuster gibt es immer weniger: Im Zusammenhang mit der deutschen Bewerbung für die Fußballeuropameisterschaft 2024 unterstützt er die Bundesligisten mit ihren Stadien, damit Deutschland 2024 – als erstes Ausrichterland überhaupt – ein behindertengerechtes Turnier anbieten kann.
Leverkusen dominiert das Spiel klar und wird das Aufeinandertreffen gegen die abstiegsbedrohten Stuttgarter mit 4:0 gewinnen. Als das Spiel entschieden ist, wechselt Roger Schmidt, der Trainer der Werkself, und nimmt dabei eine Positionsänderung vor. Dabei wird Gerd stutzig und fragt Björns Co-Reporter, welche Position die Spieler nun einnehmen: „Du siehst es vielleicht, deswegen machst du dir vielleicht keine Gedanken drum: Wenn der Rechtsverteidiger rausgeht und es geht noch einer ins Zentrum, dann ist es ja rechts ja ein bisschen verwaist und da würde ich schon ganz gerne wissen, wie sie sich da hingestellt haben…“ Solche Situationen bespricht Björn mit den angehenden Kommentatoren in den Lehrgängen: In Seminarübungen hören sich die Nachwuchskommentatoren frühere Reportagen an. Auf einem Flipchart wird die gehörte Spielsituation gezeichnet. Das wird wiederum mit der realen Spielsituation verglichen.
Seit 2008 kommentiert der Bad Godesberger wie alle Blindenreporter ehrenamtlich. Manchmal müssen die Reporter für diese Leidenschaft auch mal auf eine Geburtstagsfeier oder eine Hochzeit verzichten. Doch für Björn ist es unvorstellbar, aufzuhören: „Der Grund ist bis heute der gleiche geblieben: Da sind der Gerd und die anderen Stammhörer, mit denen ich einfach unglaublich viel Spaß habe. Die sind einerseits auf dich angewiesen, andererseits bist du aber auch auf sie angewiesen. Dieses Fachsimpeln über Fußball, diese Gemeinschaft, die man da erlebt, das ist schön, das ist einfach sehr, sehr schön! Nach zwei Minuten vergisst du, dass dein Gegenüber blind ist, denn du redest über Fußball. Das ist das Schönste, was du mit dem schönen Wort Inklusion erreichen kannst, dass du nicht mehr über die Behinderung nachdenkst, sondern über das Gespräch, dass du gerade führst.“ Und tatsächlich: Nach dem Abpfiff diskutiert er noch ausgiebig mit einem Hörer über die vergangenen 90 Minuten.
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