In unserem Leben ist vieles selbstverständlich. Wirklich? Die Haltung der Dankbarkeit hilft dabei, diese Illusion abzuschütteln. Doch sie erfordert konstantes Training.

Es gibt Tage, da fällt es mir so einfach, die Dankbarkeit zu begrüßen, sie mit anderen zu teilen und als eine Grundhaltung zu bewahren. Da strahlt am Morgen schon die Sonne und das Herz hüpft fröhlich und beschwingt. Und plötzlich zieht eine winzig kleine, aufbauschende schwarze Wolke heran und verdeckt meine Sonne. Ich höre auf zu singen und starre zum Himmel. Wie eine Spieluhr, die abrupt verstimmt, wie ein Fluss, der aufhört zu fließen, oder wie eine Bahn, die stockend ihre Fahrt abbricht. „Bitte aussteigen, die Fahrt endet hier!“ Meine Fahrt ins Glück.
Das fließende, gut klappende Leben, das nun innehält, sich brüstet und klagt: „Warum geht es nicht weiter?“ Da sind 80 Prozent der Lebenstage noch so schön – wenn die eine kleine Krise kommt, pah, dann war früher alles besser. Ich empfinde Undankbarkeit. Verstehen wir dieses Wort? Ist es ein Sammelbegriff für Wut, Enttäuschung, Verzweiflung, Rebellion, vielleicht sogar für Zorn? Aber warum?
Alles Standard, oder?!
Stellen wir uns ein Haus in seinen Grundfesten vor. Ein gut lokalisiertes Fundament, harte Betonwände, ein schützendes Dach. „ Alles Standard, oder?“ On Top brüsten sich einige Häuser mit einem besonders hübschen Farbanstrich, einer ganzen Gläserfront oder einer extravaganten Innenausstattung. Übertragen wir dieses Bild auf die Dankbarkeit: Wir gehen davon aus, dass es in unserem Leben Bereiche gibt, die standardmäßig vorhanden sind. Die werden halt mitgeliefert. Hat jeder. Ist normal. Wir sagen uns, dass wir das verdient haben.
Beispielsweise habe ich es verdient, gut versorgt zu sein mit allen Mitteln, die ich brauche, um mich optimal zu entfalten. Ich verdiene es, Sicherheit zu empfinden und von sozialen Kontakten zu profitieren. Und für alles, was darüber liegt, empfinde ich Dankbarkeit. Für den Mehrwert, für die On-top-Dinge, empfinde ich Dankbarkeit. Das sind für mich die wahren Geschenke.
Achtung! Störungsmeldung im Dankbarkeitsprogramm
So habe ich zum Beispiel auch einen funktionierenden Körper verdient. Erbringt dieser noch eine außergewöhnliche Leistung, bin ich dankbar. Das Dankbarkeitsprogramm plus wird aktiviert, sobald sich die Leistung noch gravierend im positiven Sinne von anderen unterscheidet. Dann kann mit dem perfekten Leben nichts mehr schiefgehen, oder?
Sobald aber mein Körper droht, nicht mehr exzellent zu arbeiten, sagen wir durch einen Beinbruch, schlimmer noch, einen lebenslänglichen Ausfall eines Körperteils: Dann kann ich überhaupt nichts mehr Positives sehen und Dankbarkeit wird zum vergessenen Gut. „Jetzt habe ich alles verloren!“, konstatieren wir. Alles, aber wirklich auch alles.
Eigentlich bettelarm und nackt in die Welt gekommen
Hängen nun das Empfinden von Dankbarkeit und dessen Intensität davon ab, was ich denke, verdient zu haben und was für mich als Mehrwert zählt? So könnte ich den ganzen Tag dankbar sein, mit dem Wissen, dass ich im Grunde genommen gar nichts verdient habe. Wenn ich davon ausgehe, dass ich arm in die Welt gekommen bin und arm aus der Welt ziehe. Zumindest bringe ich weder etwas mit, noch nehme ich etwas mit.
Also, was habe ich getan, um etwas zu verdienen? Man braucht kein aufgeklärter Mensch zu sein, um zu verstehen, dass Leistung und Lohn zusammenhängen. Habe ich mich selbst im Mutterleib gezeugt? Habe ich mir als Baby Nahrung gegeben?
„Ich gebe mich doch nicht mit Minderqualität zufrieden!“
Wir Menschen überschätzen sehr gerne mal unsere Leistung und bezahlen uns selbst einen, für uns adäquaten, Lohn als Verdienst aus. Sind wir deshalb oft undankbar? Wenn ich denke, ein Goldsäckchen verdient zu haben, erwarte ich es und bin weniger zufrieden mit einem Silberstück. Für mein Umfeld bedeutet das, schuften, um meinen Erwartungen zu genügen. Auch der eigene Anspruch ist bestimmt übers Metermaß hinausschießend. Da sitzen wir also auf einem sehr hohen Ross. Löst Hochmut demnach den Fall in die Undankbarkeit aus?
Durch das Leid(en) lernen?
Wahrscheinlich erlebt man in Zeiten von Krankheit und anschließender Genesung das höchste Ausmaß von Dankbarkeit. So sind Krebspatienten nach einer Chemotherapie dankbar für sehr viele Kleinigkeiten. Depressive sind dankbar für jedes noch so kleine Empfinden von Glück. Und Jobverlierer dankbar für ein Bewerbungsgespräch und Hungrige geben sich mit dem noch so kleinsten Brötchen zufrieden.
Die Take-Home-Message
Dankbarkeit als Disziplin muss eingeübt werden, Tag für Tag. Nicht umsonst steht das lateinische Wort discipulus für den Schüler. Dankbarkeit ist eine Herzenseinstellung. Dankbarkeit ist kein (gutes) Gefühl, sondern das Bewusstsein darüber, dass ich im Grunde genommen nichts verdient habe und jeder Moment ein Geschenk ist. Dass die Grundfeste meines Lebenshauses schon des Dankes würdig ist.
Zu guter Letzt ist es ein Bewusstsein darüber, woher mein Leben kommt. Ob es kreativ und voller Liebe ausgedacht und zum Leben gestaltet wurde oder ob ich eben irgendwie auf der Welt bin. So nach dem Motto: „ich flutsch mal aus der Mama raus, leb ‘ne Weile und dann bin ich auch schon wieder unter der Erde.“ Wie schade, wenn Menschen verbittern, weil sie nicht nach Lebensantworten suchen und sich im Kreis drehen auf der Suche nach irgendetwas Erfüllendem.
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