Am 27.01.2016 jährt sich die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz zum 71. Mal. Alexander Ertl berichtet von seinen Eindrücken und Zeitzeugeninterviews vor Ort, die er im Rahmen einer internationalen Begegnung für Nachwuchsjournalisten gemeinsam mit dem Maximilian-Kolbe-Werk macht.

22.01.2016: Erster Tag: Anreise
Endlich, nach einer Stunde Verspätung komme ich am Flughafen Krakau an. Angesichts des wieder eingebrochenen Winters verzögerte sich mein Abflug in München. Doch die Sonne lächelt mir gleich entgegen. Der viele Schnee am Landeplatz reflektiert das Sonnenlicht. Ganz so kalt, wie ich dachte, ist es deshalb dann doch nicht. Ich suche nach Möglichkeiten, wie ich von hier zum Tagungsort komme. Ein Freund gab mir vorher schon den Tipp, dass die Taxen hier nicht besonders teuer wären. Doch zunächst muss ich noch mein Geld in die Landeswährung Zloty umtauschen, da ich in München keine Bank fand, die dazu imstande wäre. Nachdem ich im Besitz der Geldscheine bin, auf denen fürstliche Herren mit grimmigen Mienen zu sehen sind, halte ich Ausschau nach einem Taxi. Ich entscheide mich somit gegen eine günstigere Zugfahrt. Allerdings gibt mir GoogleMaps an, dass die Bahnfahrt drei Stunden dauere und die Taxifahrt 45 Minuten. Somit lasse ich mich auf die weniger abenteuerliche Variante ein.
Wieso ich mir denn diesen traurigen Ort ansehen wollte, fragt mich der Taxifahrer in gebrochenem Deutsch, als ich ihm die das Ziel „Oświęcim“ nenne. Ich erzähle ihm vom Treffen der Nachwuchsjournalisten, dem anstehenden Programm mit Besichtigung des Konzentrationslagers, der Befragung der Zeitzeugen und der Teilnahme am Gedenkakt zum Jahrestag der Befreiung. Wir fahren über ein kurzes Autobahnstück, die längste Zeit jedoch über eine Landstraße hinein in ein weites Land, das mich sogleich fasziniert. Die Straßen sind gesäumt von Häusern, bei denen die unverputzten Ziegel noch hervorschauen. Der Straßenzug verschwindet, es kommt ein unendlich lang erscheinender Wald zum Vorschein. Dieses Phänomen wiederholt sich einige Male, wiederum sehe ich Häuserketten, die auf ein wenig komfortables Leben hindeuten. So ziehen sich die fünfzig Kilometer bis zum Zielort und die Dreiviertelstunde kommt mir wesentlich länger vor. In Oświęcim angekommen, merke ich, dass Auschwitz nicht zu einem toten Erinnerungsort verkommen ist, sondern Oświęcim als eine polnische Stadt von fast vierzigtausend Einwohnern über ein ganz gewöhnliches Leben verfügt: Ich erblicke neben hässlichen Plattenbauten auch Supermärkte und Tankstellen. Es ist kalt, als ich aussteige. Der Fahrer gibt mir noch seine Nummer, sollte ich wieder mit dem Taxi zurück zum Flughafen wollen.
Der erste Abend gestaltet sich dann interessant. Ich bin erstaunt, dass die anderen dreiundzwanzig Teilnehmer nicht nur aus Deutschland, sondern auch aus sieben osteuropäischen Ländern stammen. Als erste Aufgabe nähern wir uns der Frage, welches geschichtliche Ereignis der letzten hundert Jahre das Leben in unserer Region wohl am Wirkmächtigsten beeinflusst hat. Als Stichworte fallen in meiner Gruppe beispielsweise der Fall der Berliner Mauer und des Eisernen Vorhangs. Daneben kommen aber auch für mich neue Informationen zutage: Kyrylo aus der Ukraine erzählt nämlich von der Hungersnot in seiner Heimat, der Ukraine 1933. Bei dieser Aktion, die Fachleute nennen sie „Holodomor“, sollen 3,5 Milionen Menschen ihr Leben gelassen haben. Mit diesen Fakten bin ich nun reif für das Bett, denn das Frühstück ist für 6:45 geplant.
23.01.2016: Zweiter Tag: Besichtigung der Gedenkstätte
Heute gilt es, früh aufzustehen. Um acht Uhr sind wir verabredet zur Führung durch das Stammlager, zunächst aber gibt es eine Einführung durch den stellvertretenden Direktor der Gedenkstätte. Er erzählt von den vielen Besuchergruppen, die diesen Ort jedes Jahr aufsuchen. Ferner mache es ihn stolz, aus welchen Ländern sie stammten; eine Kuriosität sei es, dass mehr Personen aus der Türkei denn aus Österreich kämen. Es kommt mir alles ein wenig suspekt vor, geradezu, als befänden wir uns auf einer Tourismus-Konferenz. Und in der Tat merkt man bei der darauffolgenden Führung, dass Auschwitz auch ein Museumsgelände ist. Der berüchtigte Hungerbunker des Blocks elf, wo sich die Todeszelle von Maximilian Kolbe befindet, macht mir dies später überdeutlich. Es werden regelrecht Massen durch die schmalen Gänge geschleust. Ich denke an ein Buch des jüdischen Publizisten Henryk M. Broder. Dort schreibt er, nachdem er darüber berichtet, dass selbst für die deutsche Fußballnationalmannschaft Auschwitz zum Besichtigungsprogramm „irgendwie dazugehört“: „So wie die Erinnerung heute praktiziert wird, ist sie eine Übung in Heuchelei, Verlogenheit, Scheinheiligkeit und Opportunismus.“ Ich hoffe nur, dass sich dieses Urteil nicht bestätigt.

Aber zunächst überwältigt mich der Schriftzug des Eingangstores mit der zynischen Inschrift „Arbeit macht frei“. Der Schnee unter meinen Füßen knirscht, als wir hindurch schreiten und löst in mir ein Gefühl der Beklemmung aus. Schon nach den ersten Schritten wird mir klar, wieso dieses Lager gespenstisch-beängstigend wirkt: Es ist die Unscheinbarkeit, die „Normalität“ des Ganzen. Es ist kein extraterrestrischer Ort, sondern ich befinde mich mitten in Europa. Ein Vogel zirpt inmitten des weiten Areals, Vorbote des kommenden Frühlings. Mit wachem Blick nehme ich auch wahr, mit welcher architektonischen Exaktheit die Gebäude errichtet wurden. Man sieht hier so etwas wie die „deutsche Gründlichkeit“. Beklemmend sind für mich auch die Wachttürme und die Stacheldrahtzäune. Man braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, wie es sich hier vor gut siebzig Jahren zugetragen hat.
Unsere Gruppe erfährt, dass Auschwitz nicht nur als Vernichtungslager diente, sondern auch als Lager für Gefangene unterschiedlichster Art. Im sogenannten Stammlager halten wir uns den Vormittag über auf. Wir sehen uns die Ausstellungen in den unterschiedlichen Blöcken an. Es gibt hier eigentlich nicht wirklich Spektakuläres zu sehen. In einer Ausstellung sieht man die Gebrauchsgegenstände, die den Menschen abgenommen wurden (Koffer, Schmuck etc.), in einer anderen Bilder von den Deportierten, und wohl am beängstigenden: Hinter einer Glasscheibe befinden sich unzählige Haarzöpfe von vergasten jüdischen Frauen, aus denen zum Teil dann Teppiche gemacht wurden. Wir werfen später einen Blick in das Krematorium. Es lässt mich mehr als nur erschaudern, dort zu sein und ich bin froh, als wir wieder nach draußen, in die Kälte, kommen. All das lässt mich schweigsam werden; die Atmosphäre ist bedrückend. Am Nachmittag schließlich besuchen wir Birkenau.
„Das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau war das größte deutsche Vernichtungslager während der Zeit des Nationalsozialismus“, heißt es sachlich-präzise auf Wikipedia. Es ist für mich sehr irreal, vor dem Einfahrtsgebäude mit den Bahngleisen zu stehen. Ein Bild, das man aus dem Geschichtsunterricht kennt, das aber jetzt einen ungewöhnlichen Eindruck macht. Alles wirkt, als wäre es nur eine Frage der Zeit, bis ein neuer Zug mit todgeweihten Passagieren kommt. Innen drin merkt man jedoch, dass nicht mehr alle Baracken stehen, doch die bedrückende Atmosphäre ist auch hier noch da. Wir sehen uns eine Baracke von innen an. Es ist nicht viel wärmer als draußen und nur wenig Tageslicht dringt ins Innere. Frau Oleksy, die uns durch das Lager führt, erklärt uns aber, dass hier auch gewöhnliches Leben stattgefunden habe: Es hätten sich Liebes- wie Hassszenen ereignet; Kinder seien abgetrieben oder heimlich geboren worden; genauso sei hier auch Kunst geschaffen worden. Was aber am eindrucksvollsten ist: Das KZ habe nicht nur Heilige hervorgebracht, sondern ebenso sei unter den Gefangenen auch Denunziantentum und Kollaboration mit den Nazis an der Tagesordnung gewesen, um zu überleben.
„Manchen war jedes Mittel recht, um zu überleben.“ Erstaunlich finde ich die Informationen, dass die Selbstmordrate im Lager nicht höher als unter normalen Umständen war. Dies habe der Arzt und Lagerinsasse Viktor Frankl nach dem Krieg wissenschaftlich belegt. Der unbedingte Glaube an einen Lebenssinn habe viele Menschen überleben lassen. Am Denkmal für die Opfer schließlich, in unmittelbarer Nähe zu den gesprengten Gaskammern, in denen hunderttausende von Menschen ihr Leben lassen mussten und grausam zu Tode kamen, soll ich eine Andacht halten. Ich bin mir nicht mehr sicher, ob ich für diese Veranstaltung überhaupt noch die rechten Worte finde, hilflos klammere ich mich an mein Konzept, das ich noch in München erstellt habe. Ich ringe mit den Worten und gebe der Stille Raum. Ist es denn überhaupt gut, hier um den Segen Gottes zu flehen? Ich tue es dennoch – mit einem unguten Gefühl. Vor und nach dem Krieg seien die Täter, die SS-Männer und KZ-Aufseher zum größten Teil ganz gewöhnliche Bürger gewesen, so Frau Oleksy abschließend. Psychologen, Soziologen, Philosophen und Theologen – alle haben sich gefragt, warum der Mensch derart zum Bösen fähig sei. Und sie alle haben keine einfache Antwort gefunden – „Vielleicht gibt es die auch nicht.“
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