Am 27.01.2016 jährte sich die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz zum 71. Mal. Unser Autor Alexander Ertl berichtet von seinen Eindrücken und Zeitzeugeninterviews vor Ort, die er im Rahmen einer internationalen Begegnung für Nachwuchsjournalisten macht.

Dienstag, 26.01.2016 – Fünfter Tag: Oświęcim, nicht Auschwitz
Inmitten der vier Frauen wirkt der Mann wie der sprichwörtliche Hahn im Korb. Alle haben sie eine Krawatte umgebunden und lächeln mir verschmitzt von der Hausfassade entgegen. Ich habe mich in die Stadt Oświęcim begeben, eine gute halbe Stunde Fußweg weit entfernt vom „Dialogzentrum“, wo ich die letzten Tage verbrachte. Fast vierzigtausend Menschen wohnen in dieser Stadt am Rande der beiden ehemaligen Konzentrationslager. Es ist ungewöhnlich warm geworden für diese Jahreszeit. Eigentlich bräuchte ich nicht einmal mehr meinen Schal, geschweige denn meine Mütze aufzusetzen. Auf dem Plakat steht der Name der Stadt, „Old Oświęcim in photography“. Nichts erinnert an die NS-Zeit. Vielleicht stammt das Bild aus den 50er-, vielleicht auch erst aus den 60er-Jahren. Wer weiß das schon.
Ungewöhnlich durchschnittlich finde ich den Marktplatz.

Es ist ruhig und überschaubar an diesem Dienstagvormittag, nur drei ältere Frauen kreuzen meinen Weg. Darf dieser Ort so normal sein? Auf der Mitte des Platzes steht noch ein Christbaum, mit Kugeln, Schleifchen und künstlichen Schneeflocken geschmückt. Die Weihnachtszeit dauert in Polen ganz traditionell bis Lichtmess, bis zum Hochfest der Darstellung des Herrn am 2. Februar also. Zunächst begebe ich mich in eine groß erscheinende Kirche, die wohl unter dem Patronat Don Boscos steht. Zumindest deutet daraufhin die direkt vor dem Gotteshaus befindliche Statue des Heiligen, der seine Arme weit geöffnet hat und von Kindern umringt wird. Im Inneren bin ich abermals überrascht, diesmal von den Ausmaßen. In den wenigen Kirchenbänken sitzen zwei Frauen und beten. Ich betrachte sie nur von hinten, merke aber: Sie sind nicht allzu alt. Man erlebt hier eine ganz andere, intensiv Art von Frömmigkeit. Ich verlasse die Kirche, lasse die für mein Empfinden schon an der Grenze zum Kitschigen befindlichen Jesus-Schnitzereien und die Handzetteln, die die neuesten Botschaften der „Frau aller Völker“ verbreiten, hinter mir.

Erneut fällt mir eine Hausfassade ins Auge. Das Gebäude aus Beton, von der Größe einer Garage vielleicht, beherbergt nicht nur ein Fitnessstudio, sondern außen auch ein Graffiti. Dargestellt wird Papst Johannes Paul II., daneben eine Sprechblase, vermutlich ein Zitat von ihm. Ich kann nur das Wort „Antysemityzm“ unbedenklich übersetzen und denke, dass der polnische Pontifex sich wohl einmal energisch dagegen gewandt hat. Das Papst-Graffiti auf der Fitnessstudio-Fassade – ein schönes Zeichen, finde ich.
Wolken ziehen auf, doch wenigstens bleibt es trocken, als ich nach einer Einkaufsmöglichkeit suche. Ich entdecke eine der 345 polnischen McDonald’s-Filialen. „McDonaldisierung“ ist zu einem Begriff von Globalisierungsprozessen geworden. George Ritzer hat 1993 die Aspekte Effizienz, Kalkulierbarkeit, Voraussagbarkeit und Kontrolle als Charakteristika dieses Wandels ausgemacht. Auch das macht dieses Gewerbegebiet, in dem ich nun unterwegs bin, aus. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis ich ein Geschäft entdecke, wo ich an Rasierzeug komme. Unglücklicherweise habe ich nämlich in München meinen Kulturbeutel vergessen. Eine Lappalie bei den Erzählungen dieser Tage vielleicht. Dennoch bin ich recht dankbar, als ich einen Lidl entdecke und mir dort dann die hygienische Ausrüstung hole.
Während ich meine Erlebnisse vom Vormittag niederschreibe, sitze ich neben einem der Zeitzeugen im Aufenthaltsbereich nahe der Rezeption. Schweigsam ist er tief eingesunken in dem alten Ledersessel. Manchmal wippt er mit seinen überkreuzten Füßen hin und her. Eine leere Kaffeetasse und sein Zimmerschlüssel liegen vor ihm auf dem Tisch. Er legt seinen Daumen und Zeigefinger ans Kinn, im nächsten Augenblick verschränkt er seine Arme. Er blickt ein wenig ins Leere. Vermutlich ist er übermüdet und will gar nicht mehr sprechen und vor allem keinen gequälten Smalltalk. Mehr würden unser beider sprachliche Kenntnisse sowieso nicht zulassen. Ist es überhaupt in Ordnung, ihn hierher zu bringen, wo er einzig als Zeitzeuge eines grausamen Verbrechens wahrgenommen wird? Sein Anblick macht mich traurig. Immer wieder blickt er auf seine Armbanduhr, während ich mit meinen Gedanken schon in Oświęcim bin und nicht mehr in Auschwitz. Der ältere Herr atmet schwer, räuspert sich, steht auf, nimmt sein Kaffeegeschirr und geht schlurfend weg. Am Abend finde ich ihn wiederum auf dem Sofa sitzend. Doch dieses Mal unterhält er sich angeregt mit anderen Zeitzeugen und polnisch sprechenden Leuten. Man spürt seine innerliche Anspannung und Erregung förmlich. Ich bin mir nicht sicher, welches Bild ich mir von dem Mann und von diesen Menschen machen soll.

Mittwoch, 27.01.2016 – Sechster Tag: Großes Gedenken
Am Morgen findet der „Gottesdienst für die Opfer der Konzentrationslager und des Krieges“ in einem umfunktionierten Saal im „Zentrum für Dialog und Gebet“ statt. Aber eigentlich handelt es sich um eine römisch-katholische Messfeier. Wie fast alles in Polen für Außenstehende sehr gewöhnungsbedürftig. Ich denke an die deutschen KZ-Gedenkstätten. Dort wäre eine solche Veranstaltung völlig undenkbar. Eine Musikband beginnt zu spielen, Keyboard und Gitarren. Der Einzug beginnt. Die Alben der Ministranten sind ihnen viel zu kurz und die Messgewänder der Konzelebranten glitzern künstlich. Hinterdrein folgt ihnen ein Bischof mit übergroßem Stab und Mitra. Währenddessen stehe ich in der hinteren Ecke und betrachte die Mitfeiernden. Einige der 60 Überlebenden sind schon anwesend. Sie haben alle ein blau-weiß gestreiftes Tuch um den Hals gebunden. Darauf stehen ihre Häftlingsnummer und die entsprechenden Erkennungszeichen ihres „Vergehens“, weswegen sie nach Auschwitz kamen. Ich entdecke ein „P“ für politischer Häftling. Die meisten wirken erstaunlich robust für ihr Alter. Nicht alle gehen zur Kommunion. Ich finde es auch schwierig, diese beiden Formen von Erinnerung und Vergegenwärtigung so miteinander zu verbinden. Natürlich boykottieren die jüdischen Überlebenden diese Veranstaltung, sagt mir eine Frau später. Von der Predigt des Bischofs verstehe ich leider nur die wenigen deutschen Brocken: „Auschwitz-Birkenau“, „Konzentrationslager“. Zu anfangs liest er seine Predigt noch ab, doch dann spricht er frei, ohne zu stocken. Obwohl ich nicht weiß, was er sagt, muss er seine Worte dennoch wohl klug wählen. Jedenfalls hören ihm alle gespannt zu.

Die offizielle Gedenkveranstaltung findet dann auf dem Gelände von Auschwitz II-Birkenau statt. Wir werden dorthin mit dem Bus gebracht und ein Teil der Gruppe unternimmt einen kurzen Spaziergang hin zur sogenannten „Sauna“. Diesmal sind die Sicherheitsvorkehrungen verschärft, der neue polnische Präsident hat sein Kommen angekündigt. Rucksäcke dürfen nicht mit aufs Gelände genommen werden. Der Platz im Inneren der „Sauna“ ist allerdings begrenzt, sodass ein Teil der Gruppe, darunter auch ich, neben dem Denkmal für die Opfer die Feierlichkeiten mitverfolgen. Mein Handy zeigt mir an, dass die Temperatur mittlerweile 8° C betrage. So habe ich zuvor auf die lange Unterhose und meine Mütze verzichtet und bereue das jetzt. Man sollte den Wind hier nicht unterschätzen, der mich recht schnell auskühlt.
Die Zeremonie wird über eine Videoleinwand auch hierher übertragen. Ich mache ein paar kleine Wärmübungen. Von den Reden verstehe ich so gut wie nichts. Sie sind nämlich auf polnisch, hebräisch oder russisch gehalten. Aber da sowieso hier keine Tagespolitik zu erwarten ist, lenke ich mich mit Wärmübungen vom eigentlichen Geschehen ab. Darum blicke ich nicht mehr auf zur Übertragung, sondern sehe den fleißigen Frauen zu, die als letzte Schritte vor dem Gedenkakt am Denkmal den Platz sauber kehren. Die Polizisten haben bereits das Areal abgesperrt und schauen mürrisch zu uns herüber. Es erstaunt mich, denn mehr als zweihundert Leute sind sicherlich nicht hier.
Einige Zeit dauert es, bis die Überlebenden zum Denkmal kommen. Selbst der polnische Präsident und seine Delegation haben zu warten. Insgesamt fünf kleinere Busse fahren hin zum Ende der Bahngleise, wo das Denkmal errichtet wurde. Da sonst währenddessen wenig geschieht, hat jeder Meter, den sich die Fahrzeuge rückwärts bewegen, für uns Unterhaltungswert. Die Busse halten an. Die meisten der ehemaligen Lagerinsassen gehen gebückt, gut ausgerüstet mit einem warmen Mantel und gestützt auf dem Gehstock in Richtung der ihnen zugewiesenen Plätze. Nun kann auch der zweite, weitaus emotionalere Teil beginnen.
Die fortdauernde Stille durchkreuzt ein seltsames Geräusch. Erst bei näherem Hinsehen bemerke ich einen Mann, der sein Widderhorn blast, das Schofar. Danach beginnt ein Rabbiner singend zu beten und der örtliche Bischof, den ich schon am Vormittag sah, hält eine kurze Ansprache. Daneben stehen unterschiedliche geistliche Herren. Auch sie treten jetzt vor das Mikrophon und rezitieren gemeinsam einen Psalm. Der Gedenkakt fährt fort mit einer kleinen Geste der Überlebenden. Sie tragen Kerzenlichter und stellen sie vor und auf die Gedenkplatten. Danach marschiert Präsident Duda das Ehrenmal entlang und verneigt sich. Langsam finden die Feierlichkeiten ihr Ende.
Nachdem die hohen Gäste weg sind und die ersten Busse der Überlebenden abgefahren sind, wird die Absperrung entfernt und wir dürfen auch zum Denkmal gehen und dort eine Kerze hinstellen. Als ich meine Gruppe daraufhin wieder finde, steht eine deutsche Landeskultusministerin bei ihnen. Der Geschäftsführer des Kolbe-Werks hat sie zu uns geholt. „Schön Sie hier alle zu sehen! Wie viele Leute sind Sie denn noch?“, fragt sie lächelnd beim Händeschütteln. Sie sei bereits zum fünften Mal hier. Manchmal begleite sie hierher auch Schulklassen. Es sei ihr nämlich ein wichtiges Anliegen gewesen, dass im aktuellen Schullehrplan das Thema „Holocaust“ stark und anschaulich vertreten sei. Ich bin erschüttert über so viel Unangemessenheit gegenüber der Atmosphäre des Ortes und der gerade zu Ende gegangenen Gedenkveranstaltung und bin einfach nur froh, als wir uns wieder in Richtung Bus bewegen, der uns zurück zum Tagungshaus bringt.
Nach all den Erlebnissen der letzten Tage frage ich mich, welchen Sinn dieses zelebrierte Erinnern nach über siebzig Jahren denn eigentlich noch hat. Weder die Nazis noch alle anderen Holocaust-Leugner konnten die Erinnerung an die Gräuel, an die dunkelsten Kapitel Europas, auslöschen. Aber der Shoah sind weitere Völkermorde in die Liste der Menschheitsverbrechen nachgetragen worden. Immer noch sehen wir, was geschieht, wenn Hass gesät wird. In Syrien und anderswo. Nun bin ich allerdings zu müde, um mich intensiver damit auseinanderzusetzen. Die letzte Nacht hier beginnt und morgen werde ich nach München zurückfliegen.
Schreibe einen Kommentar