Aufgereiht aneinander stehen hunderte Menschen an schmalen Holzabsperrungen oder sitzen auf hohen Steinen, unter denen sich der 1.200 Meter tiefe Colca Canyon erstreckt. Allesamt blicken sie in die Schlucht und suchen das Gebiet nach etwas Bestimmten ab. Auf einmal kurze, laute Schreie. Ist etwa einer der waghalsigen Touristen seiner Sensationslust zum Opfer gefallen? Nein. Nach einiger Zeit werden die Rufe verständlich: „Un Condor, un Condor!“, hallt es durch das Tal.
Auf einmal ist das ungeduldige Murmeln verstummt und ehrfurchtsvolle Ruhe vereint die Menschen aus verschiedensten Kontinenten. Unter den wartenden Besuchern kreist ein junger Andenkondor. Alle Kameras und Ferngläser sind auf das braungefiederte Tier gerichtet. Selten habe ich es erlebt, dass ein einziger Augenblick derart viele Menschen zugleich fasziniert. Die größten fliegenden Vögel unserer Erde haben es durch ihre reine Präsenz geschafft, wozu Kaiser, Könige, Regierungen, Religionen und Wirtschaft nicht im Stande sind: Verschiedene Kulturen und Generationen im Einklang und Frieden zu vereinen.
Gefangen im Bann
Der Andenkondor war schon im Glauben der Inka ein heiliger Vogel. Trotzdem rotteten die Bewohner der südamerikanischen Bergkette den im ausgewachsenen Stadium schwarz-weißen Aasfresser fast vollkommen aus. Der in zahlreichen Wappen vertretene Vogel wurde beschuldigt, lebendige Tiere zu töten. Ein fataler Trugschluss, der beinahe das Ende dieser großartigen Spezies bedeutet hätte. Zum Glück hat die Vernunft gesiegt. Deswegen ist es mir und den anderen Bewunderern möglich, den Namensgeber des Cruz del Condor in freier Wildbahn zu beobachten.
In der Zwischenzeit schrauben sich sicherlich fünf oder sechs Kondore durch die warmen Aufwinde aus der Schlucht in die Höhe, verschwinden kurz am Horizont, um anschließend mit einem begeisterten Raunen wieder begrüßt zu werden. Unverständlich ist jedoch, dass einige Besucher den anderen einen Blick auf die Kondore verwehren, nur damit sie für mehr als eine Stunde den besten Platz haben. Als es zurück zum Auto geht, habe ich die unterdrückte Wut unter Kontrolle. Die gigantischen Andenkondore wollen sich anscheinend bei all ihren Besuchern bedanken. Im letzten Moment schrauben sich nochmals drei Tiere in luftige Höhen. Ich stehe in der Autotür und blicke ungläubig gen Himmel: Für einige Sekunden scheint die Zeit stehen zu bleiben, als einen Meter über mir ein Andenkondor mit ausgebreiteten Flügeln schwebt. Mystisch und majestätisch.
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