Im kleinen Örtchen Dietfurt, mitten in Bayern, feiern die Leute kein Karneval. Dort gibt es eine ganz andere Tradition, die auf den ersten Blick durchaus als abgefahren durchgeht: Die Dietfurter zelebrieren den Chinesenfasching.

Rhythmische Paukenschläge, aufdringliche Vuvuzelas und knatternde Ratschen rauben Fritz Koller den Schlaf. Wenn der Industriefachwirt am unsinnigen Donnerstag um halb fünf Uhr morgens aufsteht, dann braucht er keinen Wecker.
Killewau in Bayerisch-China
„Ich hab schließlich einen eigenen Weckruf“, sagt der 60-Jährige, während er gemütlich seinen dritten Kaffee schlürft. Mit ohrenbetäubendem Lärm und dem kaiserlichen Faschingsruf „Killewau“ deuten die so genannten „Gelben Ameisen“ den Schlafenden an, dass nun Kaiser Ko Huang Di die Stadt regiert. Denn: Fritz Koller ist kein gewöhnlicher Maschkerer. Jedes Jahr zur Faschingszeit wird er zum Staatsoberhaupt der Stadt Dietfurt – als Kaiser Ko Huang Di, Herrscher über Bayerisch-China. Eigentlich ist Dietfurt an der Altmühl mit seinen knapp 6.000 Einwohnern ein recht beschaulicher Ort. Nur an Tagen zwischen unsinnigem Donnerstag und Faschingsdienstag gerät es vollends aus den Fugen. Es wird zu Bayerisch-China – der etwas anderen Karnevalstradition, die dieses Jahr bereits zum 60. Mal zelebriert wird.
Lange kann Fritz Koller seinen Kaffee nicht genießen. Nachdem er um viertel sechs das erste Radiointerview des Tages meistert, kommt das Scheppern und monotone Tröten des Weckrufs immer näher, bis es vor seiner Haustür verstummt. Routiniert und ohne Eile zieht Fritz Koller seinen bunt bestickten Kimono über und schlüpft damit in seine neue Identität: In die des Kaisers von Bayerisch-China. Er wirkt gelassen, wenn auch übermüdet. Gemächlich tritt er vor die Herolde, die sogleich verstummen. Er begrüßt sie mit einem dreifachen Killewau, dem Dietfurter Pendant zu „Hellau“.
Der Kaiser tritt auf
Viel Zeit für einen Plausch bleibt nicht. Fritz Koller trinkt seinen vierten Kaffee, während er mit Techniker Hermann Reinhold beiläufig den Ablaufplan für die spätere Begrüßung am Platz des himmlischen Friedens durchgeht. Seine Frau Elisabeth putzt emsig die Küche. „Fritz, du musst noch zum Drachen raus“, erinnert sie ihren Mann ohne den Schrupper aus der Hand zu legen. Seelenruhig streift Fritz Koller den kaiserlichen Umhang ab. Nach zwölf Jahren als Kaiser von Bayerisch-China ist der unsinnige Donnerstag für ihn Routine. „Ich schaffe das alles nur durch die großartige Unterstützung meiner Familie“, weiß er das Engagement seiner Frau und den drei Töchtern zu schätzen. Auch Kollers Geschwister helfen, wo sie nur können. So tüftelt er wenige Stunden vor Beginn des Umzugs gemeinsam mit Bruder Reinhard am Stromaggregat des majestätischen Drachenwagens. Kaum ist der Wagen fertig, ist es Zeit, erneut ins kaiserliche Gewand zu schlüpfen. Denn Kaiser Ko Huang Di wird schon sehnlich im hiesigen Kindergarten erwartet.
„Mir ist es besonders wichtig, den Kindern von der Pieke auf den Chinesenfasching näher zu bringen“, erklärt er. Bedächtig steht er vor den rund 150 Kindern, wartet bis es mucksmäuschenstill ist in der Turnhalle. Nach einer kunstvollen Pause wirbelt er ihnen das Dietfurter Servus, den Faschingsruf „Killewau“, entgegen. Als wären die Kinder getaktet, erwidern sie den Gruß einstimmig. Hinter den ins Gesicht hängenden Kordeln des kaiserlichen Huts zeichnet sich ein breites Grinsen ab. Man merkt: Fritz Koller ist in seinem Element. Zurück auf der Straße wird er von einem chinesischen Kamerateam aufgehalten. Geduldig beantwortet er die Fragen des Reporters, während die Kameraassistentin kaum glauben kann, den echten Kaiser von Bayerisch-China vor der Linse zu haben. Ein chinesischer Passant verneigt sich breit grinsend vor Ko Huang Di und gratuliert ihm. Der Chinesenfasching wird durchaus ernst genommen von den Landsleuten aus Fernost.
Chinesisches wohin man blickt
Jedes Jahr schickt die chinesische Botschaft und das Konsulat in München eine Delegation nach Dietfurt. Spätestens dann geht Fritz Koller voll und ganz in seiner Rolle auf. Gelbe Fahnen mit chinesischen Zeichen und Schilder mit chinesischen Figuren zeugen von einer chinesischen Identität in ganz Dietfurt. Auch im Haus von Fritz Koller zieren chinesische Figuren und Schriftzeichen jeden freien Quadratzentimeter „Nach Weihnachten dekorieren wir das Haus“, schmunzelt Elisabeth Koller, während sie die Seidentischdecke im traditionell chinesischen Design zurechtrückt. Zahlreiche Fernseh- und Zeitungsinterviews später sitzt Fritz Koller wieder in seiner Küche, die arme auf dem Bauch verschränkt. Tochter Katrin schminkt ihn. Ein letzter Blick in den Spiegel. Fritz Koller atmet tiefdurch: Sein Auftritt kann starten.
Um Punkt 13:61 Uhr starten die Dietfurter Narren ihren Umzug. Um die 50 Wagen nehmen teil, doch einer steht im Fokus: der buntbemalte Drachen, der sich mit dem kaiserlichen Wagen im Schlepptau durch die Gassen von Dietfurt schlängelt. Auf dem erhöhten Podest des Wagens steht breitbeinig Kaiser KO Huang Di und grüßt mit einer ehrwürdigen Geste die rund 11.000 Besucher. Tausende erwartungsvolle Gesichter jubeln ihm zu. Kleine Schweißperlen auf der Stirn verraten: nun steigt auch der Adrenalinspiegel bei Fritz Koller an. Souverän spricht er zur Menschenmasse: „Killewau, so klingts durchs Altmühltal, Frohsinn herrscht heut überall.“ Die Dietfurter Narren applaudieren. Vom närrischen Volk bejubelt verlässt Kaiser Ko Huang Di nach einer guten Stunde die Bühne, um tanzend in der Menge zu verschwinden. Während die Dietfurter noch bis in die Morgenstunden durch die Straßen lärmen, schläft Fritz Koller bereits lange. In dieser Nacht macht ihn der größte Lärm nicht wach.
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